Steht für einen Trend: Leipzigs Linksverteidiger Angelino. (Bild: EPA)

Aussenverteidiger sind plötzlich Spielgestalter – von hochfliegenden Flügelverteidigern und asymmetrischen Systemen

Die neuen Spielmacher sind Aussenverteidiger. Warum Spieler wie Leipzigs Angelino immer wichtiger werden.

Ist er dabei, oder nicht? Leipzig bangt vor dem Rückspiel des Achtelfinals in der Champions League gegen Liverpool um den Einsatz seines Besten. Nach dem 0:2 im Hinspiel wäre die Hypothek ohne Angelino doppelt gross. Der Spanier ist wettbewerbsübergreifend mit acht Toren und elf Assists in 31 Partien einer der offensiv besten seines Teams. Seine Position: Linksverteidiger.

In Glasgow ist der Jubel in der einen Hälfte der Stadt riesig: Die Rangers sind nach neun Jahren der Dominanz von Lokalrivale Celtic endlich wieder schottischer Meister. Der Engländer James Tavernier ist Captain und Topskorer des neuen Champions. 11 Tore hat er selber erzielt, 10 hat er vorbereitet. Er führt die Statistik des Teams an, obwohl er zuletzt wegen einer Knieverletzung ausfiel. Seine Position: Rechtsverteidiger.

Die Spielsysteme werden asymmetrisch

Angelino und Tavernier stehen sinnbildlich für die modernste Variante von Aussenverteidigern. Im Englischen werden sie «High Flying Wingbacks» genannt, also hochfliegende Flügelverteidiger. Das ist deshalb der Fall, weil sie bei eigenem Ballbesitz meist auf der Höhe der gegnerischen Verteidigung stehen. Dank ihrer Schnelligkeit können sie rasch dem gegnerischen Verteidiger enteilen.

Auch in das Aufbauspiel sind sie vermehrt einbezogen. Die Aussenverteidiger sind nur noch in den seltensten Fällen jene Kämpfertypen ohne ausgeprägte Technik, vielmehr sind sie nicht nur pfeilschnell, sondern auch technisch versiert, dribbelstark und verfügen über eine hohe Passgenauigkeit. Viele Mannschaften setzen dabei aber auf zwei unterschiedliche Aussenverteidiger. Leipzig zum Beispiel spielt nur selten symmetrisch. Angelino steht meist offensiver als auf der anderen Seite Nordi Mukiele.

Diese offensiveren Aussenverteidiger sind auch bei Leipzigs Champions-League-Gegner Liverpool zu beobachten, wo Andrew Robertson und Trent Alexander-Arnold als Spielgestalter gelten. Niemand in der Liga hat so viele Ballkontakte wie die beiden Aussenverteidiger.

Der Taktikkniff von Pep Guardiola

Liebt einrückende Aussenverteidiger: Manchester-City-Trainer Pep Guardiola.

Liebt einrückende Aussenverteidiger: Manchester-City-Trainer Pep Guardiola.

Bild: EPA

Neben dem «hochfliegenden» gibt es auch den «einrückenden» Aussenverteidiger. Dies ist bei Premier-League-Leader Manchester City zu beobachten. Eigentlich läuft das Team von Pep Guardiola in einem 4-3-3 auf, in der Vorwärtsbewegung rückt aber mit Joao Cancelo ein Aussenverteidiger ins zentrale Mittelfeld, der andere Aussenverteidiger bildet mit den Innenverteidigern eine Dreierkette. Pep Guardiola liebte die nach innen rückenden Aussenverteidiger schon bei Bayern München zu Zeiten von Philipp Lahm, dadurch soll im Zentrum eine Überzahlsituation kreiert werden. Das System hat er weiter perfektioniert.

Dortmunds Linksverteidiger Raphaël Guerreiro ist derweil eine Mischung zwischen Cancelo und Angelino. Er ist weniger offensiv als der Leipziger und lässt sich auch gerne mal ins Zentrum fallen, jedoch weniger konsequent als Cancelo. Bei Dortmund hat Guerreiro inzwischen deutlich mehr Ballkontakte als die Mittelfeldspieler Axel Witsel, Emre Can oder Mahmoud Dahoud. Wenn er mal verletzt ausfällt, fehlt es an Kreativität im BVB-Spiel.

Kimmich das prominente Gegenbeispiel

Dass bei vielen Topteams derzeit Aussenverteidiger wichtige Funktionen bekleiden, könnte man auch als Zufall abtun. Schliesslich gibt es mit Joshua Kimmich bei Bayern München auch ein prominentes Gegenbeispiel. Die Bayern haben ihren spielgestaltenden Rechtsverteidiger ins Zentrum beordert. Dort, wo traditionell die wichtigeren Pässe gespielt werden als auf der Aussenbahn.

Doch auf höchstem Niveau ist zugleich vermehrt zu beobachten, dass die Defensivreihen das Zentrum immer stärker verbarrikadieren. Dadurch geht der erste Pass meist raus auf die Aussenverteidigerposition, wo die Räume nicht so vehement attackiert werden wie bei den Spielgestaltern im Zentrum.

Was damit Kroos und Modric zu tun haben

Diese Erkenntnis machte schon Zinédine Zidane von Real Madrid, das er von 2016 bis 2018 dreimal zum Sieg der Champions League führte. Im Spielaufbau liessen sich die Kreativköpfe Luka Modric und Toni Kroos auf die Position der Aussenverteidiger fallen. Dadurch entzogen sie sich dem Druck des gegnerischen Mittelfelds. Diese Idee geht davon aus, dass im Mittelfeld die spielstärksten Akteure agieren.

Die logische Fortsetzung ist es also, die technisch starken Spieler schon von Beginn weg auf jenen Positionen aufzustellen, wo der gegnerische Druck am geringsten ist. Damit wird die einst so verstaubte Position des Aussenverteidigers endlich so richtig sexy.

Publiziert in den Tageszeitungen von CH Media: Hier der Link