Livia Maria Chiariello ist die beste Schweizerin in der Rhythmischen Gymnastik. Doch statt auf einem passenden Schwingboden zu trainieren, versucht sie zu Hause der Weltspitze näher zu kommen. Es ist eine Folge der Ethik-Skandale im Turnverband.
Am Tag nach dem letzten Training in Magglingen kann es Livia Maria Chiariello nicht fassen. Auf Instagram hat sie nach der Einheit ein Bild gepostet, nun sitzt sie in Bern in einem Café und sagt: «Es ist schlimm, dass wir den Schwingboden nicht mehr benutzen dürfen. Ich mache mir Sorgen um meine Gesundheit.»
12 von 30 Stunden pro Woche hat die Nationalkadergymnastin in Magglingen trainiert. Es waren jene Stunden, in denen die 16-jährige Bernerin jene Voraussetzungen vorfand, die sie braucht, um in ihrer Sportart Rhythmische Gymnastik (RG) bestmöglich trainieren zu können.
14 Mal ist sie Schweizer Meisterin geworden, seit 2017 hat sie jeden Wettkampf auf Schweizer Boden gewonnen und war im Ausland stets beste Schweizerin. Das grosse Talent träumt davon, die Schweiz an Grossanlässen zu vertreten. Doch nun sitzt sie im Café, lässt ihre zierlichen Schultern hängen und sagt: «Ich sehe im Moment wenig Perspektiven. Ich weiss nicht, welche Ziele ich mir unter diesen Voraussetzungen setzen kann.»
Grosse Missstände in der Rhythmischen Gymnastik
Der Schweizerische Turnverband (STV) hat entschieden, den Betrieb des Verbandszentrums der RG Ende September zu beenden. Dadurch steht der Schwingboden, der im Besitz des Bundesamt für Sport ist, in Magglingen nicht mehr zur Verfügung. Es ist die Folge eines grossen Ethik-Skandals. Ehemalige Rhythmische Gymnastinnen haben im Sommer 2020 schwere Vorwürfe gegen Trainerinnen und Verantwortliche erhoben.
Sie berichteten von Psychoterror, Rücksichtslosigkeit bei Verletzungen, Essstörungen und Depressionen. Eine vom STV angeordnete Untersuchung der Anwaltskanzlei Pachmann Rechtsanwälte kam zu schrecklichen Erkenntnisse. 90 Prozent der Athletinnen des nationalen Kaders gaben an, regelmässig angeschrien zu werden. Ein Viertel bilanzierte, dass ihnen Schmerzen zugefügt wurden.
Zudem kam der Bericht zum Schluss: Hohe sportliche Ziele, wie etwa eine Olympiaqualifikation in der Gruppe, mache wenig Sinn, weil es an der sportlichen Breite fehlt und die Infrastruktur dazu nicht ausreiche. Mitunter deswegen wurde das Nationalkader der Gruppe aufgelöst.
David Huser, der neue Leistungssportchef des STV, sagt: «Diese Entscheidung wurde zum Wohl der Gymnastinnen getroffen. Der Druck auf sie war riesig.» Weil das Nationalteam Gruppe aufgelöst wurde, fällt nun auch die Trainingsmöglichkeit in Magglingen für Chiariello weg.
In der Rhythmischen Gymnastik war die Schweiz seit Jahren darauf ausgelegt, mit der Gruppe sich erstmals seit 1984 wieder für die Olympische Sommerspiele zu qualifizieren. Erst im Jahr 2020 erlaubte der STV den Start von Einzelgymnastinnen. Auch der Pachmann-Bericht kam zum Schluss, dass es rechtlich keinen Grund gebe, Einzelstarts nicht zu erlauben. «Dabei handelt es sich aber lediglich um ein Pilotprojekt», sagt Huser. «Die Einzelgymnastinnen sind deshalb nicht zentral in Magglingen sondern dezentral in ihren Regionalzentren organisiert.»
Die Krux bei der Suche nach der richtigen Halle
Livia Maria Chiariello turnte bereits im Nachwuchs im Einzel. Für sie war es ein Segen, dass Einzelstarts auch bei den Aktiven erlaubt wurden. Die beste Einzelgymnastin der Schweiz möchte durchstarten. Neben ihrem Sport-Gymnasium trainiert sie über 30 Stunden in der Woche. Für jene zwölf, die sie bis anhin in Magglingen auf dem gefederten Boden trainierte, hat sie aber nur einen mässigen Ersatz gefunden.
Sie trainiert nun in ihrem eigenen Kinderzimmer, das sie sich mit ihrer ebenfalls hochtalentierten Schwester, der 13-jährigen Sophia Carlotta, teilt. «Das Zimmer ist klein, aber ein paar Übungen kann man schon auch dort machen», erzählt sie. «Aber natürlich funktioniert das Training nicht annähernd so gut wie in Magglingen.»
Selbst die Halle beim regionalen Leistungszentrum in Biel, wo Chiariello den Rest der Zeit trainiert, ist nicht ideal: Der Boden ist zu hart und die Decke zu tief. «Es gibt nur wenige Hallen, welche die Voraussetzungen für RG auf höchstem Niveau erfüllen. Und nun haben wir den einzigen gesundheitsfördernden Schwingboden in der Schweiz nicht mehr. Das schmerzt.»
Wortwörtlich. Wegen der vielen Sprünge in diesem Sport ist es wichtig, dass die Athletinnen weich und gefedert landen können. Verletzungen werden wahrscheinlicher auf einem normalen Hallenboden, weil er zu hart ist. Zu diesem Schluss ist auch der Pachmann-Bericht gekommen. Das Verletzungsrisiko steige rapide, wenn Gymnastinnen häufig auf gewöhnlichen Hallenböden trainieren müssten.
Auch Huser weiss von dieser Thematik. Er erklärt, dass die fehlende Infrastruktur ein riesiges Problem darstelle. «Es muss unser Ziel sein, dass wir mehrere Hallen in der Schweiz haben, die für RG ausgelegt sind. Im Moment fehlt es aber an der Basis.»
Er verweist darauf, dass der Schwingboden durchaus auch in einem Regionalen Leistungszentrum verbaut werden dürfte, dies mangels genügend Hallen aber unrealistisch sei. «Ich bin der Überzeugung, dass zuerst in den Regionen die Voraussetzungen geschaffen werden müssen, bevor wir an der Spitze arbeiten können.»
Der bewusste Schritt an die Öffentlichkeit
Seit der Publikmachung der Skandale haben sich die aktiven Turnerinnen zurückgehalten. Doch Chiariello wagt den Schritt an die Öffentlichkeit nach unserer Anfrage bewusst. «Ich will, dass sich die Wahrnehmung der Rhythmischen Gymnastik verändert.
Ich habe meine ganze Kindheit geturnt, ich kann jetzt mit 16 diese Liebe nicht einfach aufgeben.» Wenn Chiariello in ihrer Sportklasse im Gymnasium in Neufeld in Bern von ihren Mitschülerinnen und Mitschüler auf ihren Sport angesprochen wird, geht es meist um negative Schlagzeilen. Chiariello sagt: «Spitzensport im RG ist hart, aber nicht unethisch. Es liegt an uns, was wir in und aus diesem Sport machen.»
Sie fürchtet sich, dass der Spitzensport langsam zurückgefahren werde. «Ohne Leistungsdruck ist die Chance grösser, dass es keine Verfehlungen mehr gibt. Aus meiner Sicht geht es nun von einem Extrem in das andere.»
Huser widerspricht der Aussage, der Leistungssport werde zurückgefahren. «Es ist nicht so, dass wir keinen Spitzensport mehr möchten. RG wird es immer geben und wir werden sie auch immer fördern.» Doch nach den Verfehlungen der letzten Jahre könne man die Talente nicht einfach gleich weiterfördern wie bisher. «Die Sportart hat enorm wenige Athletinnen, es fehlt an der Breite und an der Infrastruktur.»
Deshalb wolle der STV die Sportart Rhythmischen Gymnastik wieder aufrichten, es brauche einen sauberen Aufbau. «Wenn wir jetzt weiterhin nur für den kurzfristigen Erfolg arbeiten, haben wir in drei Jahren immer noch dieselben Probleme.»
Der Schritt zurück sei deshalb notwendig. «Aus diesem Grund befinden wir uns bis Ende 2022 in einer Übergangsphase, in der wir Zukunftsszenarien ausarbeiten möchten.» David Huser versteht aber auch Chiariellos Situation. Er sagt: «Für die betroffenen Gymnastinnen ist das schlimm. Das tut mir leid. Aber wir müssen das grosse Ganze sehen.»
Chiariello durfte nicht an EM, Schweiz verzichtet auf WM
Livia Maria Chiariello will die ethischen Verfehlungen keineswegs relativieren. «Was passiert ist, ist schrecklich», sagt sie. Als sie gefragt wird, ob mit ihr manchmal auch schlecht umgegangen wurde, sagt sie: «Nicht so wie in den Magglingen-Protokollen.» Doch sie erzählt von Benachteiligungen, weil sie verzichtete, in der Gruppe zu turnen und weil sie Probleme direkt anspricht.
Schwierig war es für Chiariello auch in diesem Frühling, als es um die Teilnahme an der Europameisterschaft ging. Zwei von drei Selektionsturnen dominierte sie – wie immer in den letzten Jahren – deutlich. Doch bei der dritten Selektion musste sie krank Forfait geben, sie hatte sich in der ganzen Nacht übergeben und fühlte sich nicht fit zu turnen.
Am Tag vor der Abreise wurde ihr deshalb mitgeteilt, dass sie nicht an die EM fährt. «Da das letzte Selektionsturnen kurz vor dem Wettkampf war, entschied man sich dagegen, Chiariello aufzubieten», sagt Huser. «Es ist unbestritten, dass sie das grösste Potenzial besitzt. Dieses Selektionsverfahren war ein Novum. Es ist sicher so, dass wir es im kommenden Jahr optimieren werden.»
An die Weltmeisterschaft Ende Oktober kann Chiariello wieder nicht teilnehmen. Die Schweiz hat keine Athletin gemeldet. «Es haben sich Gymnastinnen aus Italien bei mir gemeldet, die mich fragten, weshalb die Schweiz niemanden an die WM schickt. Erst so habe ich überhaupt davon erfahren», sagt Chiariello. «Für mich ist das eine grosse Enttäuschung, da ich von dieser WM geträumt habe.»
Huser erklärt: «Im Moment des Aufbaus verzichteten wir in diesem Jahr bewusst auf die Teilnahme an der WM. Wir sind noch zu weit von der Weltspitze entfernt. Im nächsten Jahr wird die Situation diesbezüglich neu evaluiert. Es ist durchaus realistisch, dass Chiariello dann an der Weltmeisterschaft teilnehmen kann.»
Für die Ausnahme-Gymnastin ist die Situation schwierig. Sie sagt: «Es fühlt sich manchmal an, als gäbe es mich im Sport gar nicht.»
Die Bernerin könnte das Aushängeschild ihrer Sportart sein. Der «Blick» titelte im Mai: «Um sie beneidet uns die Konkurrenz.» Stattdessen erblassen die grossen Karriereträume im Kinderzimmer von Livia Maria Chiariello allmählich.