Stephan Lichtsteiner: «Es gibt nur wenige, die so viel erreicht haben wie ich.» Bild: Claudio Thoma (Thalwil, 27. August 2020)

Lichtsteiner: «Mir ist es egal, ob ich geliebt werde»

Mit Stephan Lichtsteiner ist der erfolgreichste Schweizer Fussballer abgetreten. Der 36-jährige Luzerner im Gespräch über Image, Doppeladler und Emotionen.

In der Schweiz am Wochenende vom 29. August 2020.

Stephan Lichtsteiner ist schon da. Vor ihm auf dem Tisch stehen die Reste seines Frühstücks auf der Terrasse eines Thalwiler Hotels. Sein grünes T-Shirt passt zu den Pflanzen im Hintergrund. Der ehemalige Fussballer wirkt locker, nippt an seinem Espresso und streckt zur Begrüssung die Faust hin.

Vor zwei Wochen sind Sie als Fussballprofi zurückgetreten. Sie bleiben nicht als Publikumsliebling in Erinnerung, sondern als Kämpfer und als Hitzkopf. Wie gehen Sie damit um?

Stephan Lichtsteiner: Im Fussball geht es nicht darum, von allen geliebt zu werden. Es geht darum, zu gewinnen und Erfolge zu feiern. Es gibt nur wenige, die so viel erreicht haben wie ich. Das war immer mein Ziel. Ich wollte es nie allen recht machen, sondern ging den Weg, der für mich stimmte. Mein Fokus lag immer auf dem Fussball, es ging mir nie darum, neben dem Platz im Mittelpunkt zu stehen.

In Ihren Anfängen bei GC machten Sie von sich reden, weil Sie oft ausgetickt sind. Später wurde dies besser. Was hat sich verändert?

Man muss in jungen Jahren als Profifussballer schon perfekt sein. Der Druck ist hoch. Aber ich wusste immer: Solange die Diskussionen um mein Verhalten und nicht um die fussballerischen Fähigkeiten gehen, bin ich auf einem guten Weg. Ich musste lernen, mit dem Ehrgeiz, dem Druck und meinen Emotionen besser umzugehen.

Auch später haben Sie aber noch gerne und oft mit dem Schiedsrichter emotional diskutiert. Was geht Ihnen heute durch den Kopf, wenn Sie solche Bilder sehen?

Ich kann in jeder Situation sagen, worüber ich mit dem Schiedsrichter diskutiert habe. Ich habe die Kommunikation oft gesucht, sie ist wichtig. Für mich ging es immer darum, das Maximum herauszuholen. Auf dem Feld ist es wichtig, zu korrigieren. Zudem gab es auch Momente, in denen ich merkte, dass es ein Zeichen braucht. Manchmal kann man mit einer Aktion den Funken zünden, das Team wecken oder die Stimmung verändern. Das sind Dinge, für die man den richtigen Charakter haben muss. Das kann nicht jeder. Man muss Leaderqualitäten haben.

Sie kamen verhältnismässig spät in die Nationalmannschaft. Im November 2006 haben Sie gegen Brasilien Ihr erstes von 108 Länderspielen absolviert. Wie blicken Sie darauf zurück?

Es war sicher noch eine andere Zeit. Man musste über Jahre Leistung zeigen, ehe man ins Nationalteam kommen konnte. Das hat sich geändert, heute geht es schneller. Nach meinem ersten Jahr in Lille war ich schon davon überzeugt, dass ich an der WM 2006 in Deutschland hätte dabei sein sollen. Leider war dem nicht so. Ich habe mir dann gesagt: «Jetzt erst recht.»

Bei Ihrem Debüt gegen Brasilien waren alle erstaunt über Ihren guten Auftritt. Sie auch?

Nein, ich gab einfach Vollgas und dachte nicht viel nach. Ich war nervös, aber ich konnte eigentlich fast nichts verlieren. Die ersten Spiele sind die Einfachsten. Niemand erwartet etwas. Später wird es schwieriger, die Erwartungen steigen. Man muss seine Leistung immer wieder bestätigen.

Das haben Sie 14 Jahre lang gemacht, spielten für die Schweiz insgesamt an fünf Endrunden. Von aussen hat sich das Team in dieser Zeit enorm verändert. Wie nahmen Sie dies innerhalb wahr?

2006 war die Mentalität noch eine andere. Der Weg des Teams ging aber stetig nach oben. Wir hatten eine grossartige Zeit mit Hitzfeld und mit Petkovic ging es positiv weiter. Von der Qualität und dem Zusammenhalt her steht dieser Mannschaft nichts im Weg.

Dies scheint sich verändert zu haben. Am Anfang Ihrer Nationalmannschafszeit gab es Grüppchen von Romands und Deutschschweizern, später gab es Debatten um Alex Frei und Marco Streller. Nun wirkt das Team wie eine Einheit.

Ich hatte nie das Gefühl, dass es in der Mannschaft Probleme gab. Natürlich gibt es immer wieder Konflikte, das ist normal. Doch meistens wurden die Themen von aussen an uns herangetragen. Das ist ein gutes Zeichen, denn es bedeutete, dass es sportlich funktioniert. Als wir 2012 eine Qualifikation verpasst haben, war das ganz anders.

2015 sprachen Sie von «richtigen» und «anderen» Schweizern und meinten, man müsse aufpassen, dass das Nationalteam das richtige Image habe. Ist es inzwischen so, wie Sie sich das wünschen?

Die Aussage wurde sehr hoch gehängt. Ich denke, dass der Fokus mehr auf dem Fussball liegen sollte. Und dort ist die Schweiz seit Jahren erfolgreich. Man schaut zu viel darauf, wie die Bevölkerung das Nationalteam sieht. Es geht um Fussball. Und dort fehlt wenig, um endlich das Ziel des Viertelfinal-Einzuges erreichen zu können. Es wird immer eine Polemik darüber geben, ob Spieler die Nationalhymne singen oder nicht, aber wichtig für den Sport ist dies nicht.

An der WM 2018 haben Sie nach dem Serbien-Spiel wie Granit Xhaka und Xherdan Shaqiri den Doppeladler gezeigt. Haben Sie damals unterschätzt, was dies auslösen könnte?

Ich glaube, dass die Medien es damals verpasst haben, die ganze Geschichte richtig zu transportieren. Am Fernseher war es nicht möglich, zu erfassen, wie die Situation im Stadion wirklich war. Die Journalisten, die im Stadion waren, haben jene Stimmung mit den heftigen Provokationen mitgekriegt.

Sie kritisieren damit also vor allem die Medien.

Was geschehen ist, ist geschehen. Aber wenn man weiss, was vor Ort abging, sollte man Verständnis zeigen. Mir ging es um Solidarität. Es sollte zeigen: Wenn wir Schwierigkeiten haben, stehen wir als Team zusammen.

Im Gegensatz zu anderen Spielern gehörten Sie bis zum Schluss Ihrer Karriere dem Nationalteam an. Warum ist das Verhältnis von Ihnen zur Nati so speziell?

Da geht es nicht um das Nationalteam, sondern um meinen Charakter. Ich wollte dabei sein, bis es nicht mehr reicht. Man kann nach einem Höhepunkt zurücktreten. Doch wann ist der Höhepunkt erreicht? Wenn ich nach dem ersten Meistertitel bei Juventus aufgehört hätte, hätte ich die anderen sechs nicht geholt. Ich probiere lieber etwas und scheitere, als es gar nicht zu probieren. Darum bin ich mit 34 zu Arsenal und mit 35 zu Augsburg gewechselt. Es gibt nur wenige Spieler mit meinem Renommee, die diesen Schritt machen. Es wäre einfacher gewesen, in die USA, nach China oder sonst wo hin zu wechseln. Doch ich wollte mich in das Nationalteam zurückkämpfen und das habe ich geschafft. Ich wäre mit 36 Jahren an einer EM dabei gewesen, wenn sie nicht verschoben worden wäre. Mich macht dies stolz.

Sie planen Ihre Zukunft zweigleisig. Zum einen möchten Sie die Trainerdiplome absolvieren, Sie schauen aber auch in die Wirtschaft hinein. Wie sieht es aus, wenn Stephan Lichtsteiner in die Wirtschaft Einblick erhält?

Das ist auch für mich noch schwer beantworten. Ich will nicht überall reinschauen, viel kennt man schon. Es geht eher darum, mit Menschen zu sprechen, die Karriere in einem Bereich gemacht haben. Von solchen Personen möchte ich lernen. So oder so werde ich – ob als Trainer oder in der Wirtschaft – mal auf die Schnauze fallen. Das war auch als Profi so. Viele sehen nur meine Erfolge. Aber mir bleiben die bitteren Niederlagen mehr. Zwei Mal verlor ich den Champions-League-Final mit Juventus, einmal den Europa-League-Final mit Arsenal. Das sind Momente, die mich prägten und antrieben.

Sie hätten noch bei einem Schweizer Verein einen Vertrag bekommen können, haben sich aber dagegen entscheiden. Warum?

Fussball ist meine Leidenschaft, es macht immer noch Spass. Aber ich habe geplant, meine Karriere mit 36 zu beenden. Zudem kann man sich nicht belügen: Ich kann zwar immer noch gut kicken, aber ich weiss, wie gut ich einmal war. Es ist frustrierend, wenn man merkt, dass man nicht mehr auf dem Niveau ist, auf dem man einmal war.

Im Fussball haben sie jahrelang viele Emotionen gezeigt. Wo lassen Sie künftig Ihre Emotionen raus?

Das brauche ich nicht. Ich muss nicht herumschreien. Privat bin ich ein anderer Mensch als auf dem Feld. Bei mir waren die Emotionen im Fussball so gross, weil ich immer alles machen wollte für den Sieg. Das ist auch jetzt noch in jedem Spiel so. Ich muss mich selbst beim Joggen bremsen, weil ich immer noch jenes Tempo gehen möchte, das ich als Profi rannte.