Die Genferin Nikita Ducarroz träumt von einer olympischen Medaille im BMX-Freestyle. Als Kind wäre das undenkbar gewesen.
Sie hatte es wieder. Vor dem Flug aus den Staaten in die Schweiz, wo sie auf dem Weg nach Tokio einen Zwischenhalt einlegte, überkommt Nikita Ducarroz wieder jenes beklemmende Gefühl, das sie so gut kennt. Angst und Panik. Die Hände werden schwitzig, der Atem schwerer. Doch auch diesmal ist der Wille grösser als die Angst. Sie besteigt das Flugzeug. Heute startet sie an den Olympischen Spielen im BMX-Freestyle. Es ist der Höhepunkt einer beeindruckenden Entwicklung.
Als Ducarroz 14 Jahre alt ist, verlässt sie kaum noch das Elternhaus im kalifornischen Glen Ellen. Die kleinsten Dinge machen ihr Angst. Der Einkauf im Supermarkt, der Gang in die Schule. Fussball spielt sie schon längst nicht mehr. Sie hat dieses Hobby wegen ihrer Angst an den Nagel gehängt. Ihre Mutter sagt, sie solle sich ein neues Hobby suchen. Auf Youtube entdeckt Ducarroz BMX-Freestyle.
Der Wille ist grösser
Die Anfänge sind schwer. Sie fährt zunächst für sich, probiert Dinge aus. Irgendwann packt sie all ihren Mut zusammen, fährt zum Skatepark. «Das Fahren auf einem BMX machte mir so Spass. Der Wille, BMX zu fahren, war gross genug, um die Angst zu besiegen», sagte Ducarroz. Nicht immer zwar, aber immer öfters, schafft sie es, das Haus zu verlassen. In der BMX-Szene findet sie Freunde fürs Leben. Sie lernt, mit ihrer Angst umzugehen.
Heute, zehn Jahre später, lebt Ducarroz mit Athleten, die alle auch Freunde sind, in North Carolina. In einem Werbespot sagt sie: «BMX hat mir das Leben gerettet.» Sie meint es wirklich so. «Hätte ich das BMX-Fahren nicht entdeckt, hätte es schwierig werden können. Der Umgang mit meiner Angst habe ich durch das BMX gelernt», erzählt Ducarroz in Winterthur, wo wir sie zum Gespräch treffen. In der Trainingssession zeigt sie Aktionen, die einem beim Zuschauen Angst machen.
Ein Kind von Welt
Geboren in Nizza und aufgewachsen in Kalifornien mit einer amerikanischen Mutter und einem Genfer Vater ist Nikita Ducarroz ein Kind von Welt. Ihr Vorname wird von ihren Eltern so ausgewählt, dass er sowohl auf Französisch als auch auf Englisch gut auszusprechen ist. «Ich fühle mich nicht ganz als Amerikanerin, aber auch nicht ganz als Schweizerin», sagt sie. «In den USA bin ich zwar aufgewachsen. Aber ich merke schon Unterschiede. Genau so ist es, wenn ich in Genf bin.» Jährlich besuchte die Familie im Sommer die Grosseltern für einige Wochen. Es ist ihr zweites Zuhause.
Die 24-Jährige selber sagt, sie habe auf Französisch einen amerikanischen Akzent. Davon ist aber nichts zu hören. Und doch wirkt sie selbstsicherer, wenn sie Englisch spricht. Dann schaut sie dem Gesprächspartner direkt in die Augen. Sie strahlt zwar nicht jene Arroganz aus, die viele Topathleten umgibt, doch sie wirkt selbstsicher, charismatisch. Sie ist mit sich im Reinen. Vom Mädchen, das vor zehn Jahren kaum noch das Haus verlassen konnte, ist wenig übrig geblieben.
Die gewöhnliche Nervosität bei einem Wettkampf
Für ihren Trainer, den Niederländer Daniel Wedemeijer, ist noch immer jene Blockade im Kopf die schwierigste Aufgabe. «Natürlich bin ich in diesem Bereich kein Profi, mein Kerngebiet ist das BMX-Fahren. Aber ich versuche, Nikita zu helfen, sie zu verstehen, auf sie einzugehen. Nikita hat unglaubliche Fortschritte gemacht. Stellen Sie sich vor: Sie geht zu den Olympischen Spielen und sie scheint kaum nervös.»
Vor dem Start wird die Nervosität bei Ducarroz zwar steigen, Panik wird sie aber keine haben: «Bei Wettkämpfen bin ich wie jede andere angespannt, aber nicht mehr», sagt die Vize-Weltmeisterin, die sich bei der erstmaligen olympischen Teilnahme der Sportart BMX-Freestyle eine Medaille zum Ziel gesetzt hat. «Ich freue mich einfach auf den Wettkampf. Wenn ich auf dem BMX bin, vergesse ich den ganzen Druck, die Aufmerksamkeit. Dann will ich es einfach nur geniessen.» Auf dem BMX ist die Angst von Nikita Ducarroz ganz weit weg.
Publiziert in den Tageszeitungen von CH Media: Hier der Link