Der Gisiker Martin Hailer hat einen Roman über das Leben mit einer Behinderung geschrieben. (Bild: Pius Amrein, Neue Luzerner Zeitung)

«Früher musste ich im Zug im Gepäckwagen mitfahren»

Martin Hailer (34) ist Buchautor – und auf den Elektrorollstuhl angewiesen. Er erzählt von unangenehmen Restaurantbesuchen und wie es ist, angestarrt zu werden.

Martin Hailer, wie sind die Reaktionen, wenn Sie mit Ihrem Elektrorollstuhl auf der Strasse unterwegs sind?
Selten starrt mich jemand an. Wenn ich zwanzigmal in Luzern unterwegs bin, gibt es vielleicht einmal eine negative Reaktion auf die Behinderung. Das eine Mal bleibt dann aber natürlich in Erinnerung.

Was passiert dann?
Im Restaurant wurde schon meine Begleitung gefragt, was ich gerne hätte. Die Bedienung war jeweils unsicher, ob und wie sie mich ansprechen sollte.

Wie reagieren Sie darauf?
Ich sage relativ laut und deutlich: «Ich hätte gerne ein Rivella.» Dabei bin ich aber freundlich. Einmal hat hingegen meine Begleitung etwas schroff gesagt: «Fragen Sie ihn doch selber.»

Was geht dann in Ihnen vor?
Das stört mich heute nicht mehr. Meistens amüsieren meine Begleiter und ich uns kurz darüber, dann ist die Sache auch schon wieder vergessen.

Gibt es auch bemitleidende Reaktionen?
Es gibt solche, die sich überschwänglich freuen, wenn ich irgendwo bin. Das geht zwar Richtung Mitleid, muss aber nicht zwingend sein. Es könnte auch deshalb so sein, weil früher Behinderte nur selten in der Öffentlichkeit waren. Für mich ist es eine komische Situation, wenn sich Fremde über mein Erscheinen freuen.

Helfen Fremde manchmal auch?
Ja, oft. Aber wenn ich vor einer verschlossenen Tür bin und Hilfe bräuchte, wissen viele nicht, wie sie reagieren sollen. Ich werde dann manchmal ignoriert. In anderen Ländern, wie Deutschland oder Kanada, ist es unkomplizierter.

Was machen die Deutschen und Kanadier anders?
Sie fragen direkt, ob sie helfen sollen. Wenn in der Schweiz jemand hilft, kommt er langsam näher und fragt: «Müsste, sollte ich Ihnen vielleicht ein bisschen helfen?» Dann ist es auch schwieriger, direkt zu antworten.

Schämen Sie sich manchmal dafür, wenn Sie Hilfe brauchen?
Dafür gibt es keinen Grund. Es kam aber schon vor, dass mir unwohl war. Beispielsweise wenn ich das Gefühl habe, dass ich für mein Umfeld eine Belastung oder ein Nachteil bin.

Wann gibt es das?
Wenn wir ausgehen, können wir oft nicht in die Clubs, in die meine Freunde gerne möchten. Wir können nur in die, die behindertengerecht sind.

Erst kürzlich kritisierte der Verein für behindertengerechtes Bauen Luzern, dass das Überqueren eines Fussgängerstreifens in der Stadt Luzern schwierig sei.
Es hat da und dort noch zu wenige Abschrägungen bei den Fussgängerstreifen. Für mich ist es aber in den letzten 15 Jahren viel besser geworden. Ich kann mich noch an Zeiten erinnern, als ich in Luzern einen Umweg von drei Querstrassen machen musste, bis es eine Abschrägung hatte, wo ich die Strasse überqueren konnte.

Wie sieht es beim öffentlichen Verkehr aus?
Der ÖV ist ein Traum. Früher musste ich im Zug im Gepäckwagen mitfahren. Inzwischen sind die Züge rollstuhlgängig. Auch die Busse sind oft mit einer Klappe ausgerüstet, sodass man in den Bus einsteigen kann. Der öffentliche Verkehr hat in den letzten 15 Jahren enorme Fortschritte gemacht.

Haben Sie schon schlechte Erfahrungen im ÖV gemacht?
In Luzern noch nie. In Zürich dagegen schon: Tram-Chauffeure haben absichtlich weggeschaut. So konnten sie sagen, sie hätten mich nicht gesehen. Ohne mich eingeladen zu haben, sind sie dann weggefahren. Zwei- oder dreimal blieb ich so wortwörtlich im Regen stehen. Das ist allerdings auch schon sieben Jahre her. Vielleicht ist es heute anders.

Wie zentral ist der Rollstuhl in Ihrem Leben?
Als Jugendlicher fand ich den Rollstuhl wichtiger, als er eigentlich ist. Jeder Mensch hat mit einem Problem zu kämpfen: Einer hat eine Lernschwäche, ein anderer wuchs vielleicht in einem schwierigen Umfeld auf. Der Unterschied ist, dass der Rollstuhl für alle ein sicht- barer Nachteil ist. Damit muss man lernen umzugehen. Die Identität setzt sich aus so vielen Aspekten zusammen, darum sollte man den Aspekt behindert nicht stärker gewichten als anderes. Der Rollstuhl gehört zwar zu mir, er macht aber nicht aus, wer ich bin.

Dennoch behandeln Sie in Ihrem Buch «Was guckst du so behindert?» die Probleme, die durch den Rollstuhl entstehen. Was wollten Sie damit bewirken?
Ich wollte zeigen, wie es ist, mit einer Behinderung aufzuwachsen. Bücher über Menschen mit Behinderungen gibt es bisher häufig nur in zwei Formen. Es gibt Bücher, welche die Behinderung als schweres Schicksal brandmarken. Dann gibt es solche, in denen auf heile Welt gemacht wird. Ich wollte eine Geschichte schreiben, die einen positiven Grundton hat. Auf der anderen Seite wollte ich die Probleme, die ein Mensch mit Behinderung hat, nicht verharmlosen.

Was wird im Buch thematisiert?
Zum Beispiel, wie es ist, trotz Behinderung eine Stelle zu finden, und was es bedeutet, arbeitslos zu sein. Die Leute sagen dann zwar, man müsse nicht arbeiten. Dennoch ist es eine riesige Belastung, keine geregelte Arbeit zu haben. Nach meinem Übersetzerstudium fand ich nicht sofort eine Arbeitsstelle. In dieser Zeit habe ich das Buch geschrieben, auch um mich sinnvoll zu beschäftigen.

Trotz Behinderung wohnen Sie mit Ihrer Freundin.
Ja, seit zwei Jahren wohnen wir auch zusammen. Ich habe sie in einem Sommerlager kennengelernt, in das sie als Begleitung mitkam.

Ist Sie also gleichzeitig Ihre Betreuerin?
Nein, nur sehr selten. Ich möchte Sie nicht als meine Betreuerin ausnutzen. Dass sie mich ins Bett bringt, kommt in Ausnahmefällen vielleicht zweimal im Jahr vor.

Wer betreut sie denn?
Am Morgen kommt jeweils die Spitex. Am Mittag und Abend habe ich eine eigene Betreuung. Das ist durch den Assitenzbeitrag der IV möglich. Dadurch kann ich als Arbeitgeber auftreten und selber Betreuer einzustellen.

Was ist der grösste Unterschied im Alltag zu dem eines Fussgängers?
Ich investiere viel mehr Zeit, um aufzustehen. Bis ich am Morgen vor meiner Ovo sitze, dauert es mindestens eine Stunde. Bei Ihnen vielleicht sogar mit Duschen nur zehn Minuten.

 

Zur Person:

Martin Hailer (34) ist wegen einer seltenen Muskelkrankheit seit Geburt auf einen Rollstuhl angewiesen. Er arbeitet als freischaffender Übersetzer und lebt in Gisikon. Sein 2012 erschienener Roman «Was guckst du so behindert?» thematisiert anhand fiktiver Personen seine Erfahrungen mit einer Behinderung. Das erfolgreiche Buch soll im Dezember als Hörspiel erscheinen. Hailer arbeitet zudem bereits an einem Nachfolgeroman.

Publiziert in der Neuen Luzerner Zeitung am 23. Juni 2015.

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