Fertig gerudert: Mario Gyr am Ufer des Rotsees. (Bild: Jakob Ineichen (Luzern, 10. Oktober 2018))

Mario Gyr: «Am Schluss fehlte die Freude»

Olympiasieger Mario Gyr (33) tritt vom Spitzensport zurück. Der Luzerner blickt im Interview auf seine erfolgreiche Karriere zurück, begründet seinen Rücktritt und sagt, warum er das Aushängeschild des Leichtgewichts-Vierers war.

Mario Gyr, wir waren überrascht, als wir von Ihrem Rücktritt hörten. War der Zeitpunkt für Sie selber auch überraschend?

Ja, irgendwie schon. Ich hätte eigentlich schon andere Pläne gehabt, die Olympischen Spiele 2020 in Tokio waren mein Ziel. Aber ich habe mich immer wieder hinterfragt. Und wenn man keine Freude mehr an dem hat, was man macht, muss man aufhören. Die Wettkämpfe selber habe ich immer noch sehr genossen. Aber in diesem Jahr war ich den ganzen Juli und den ganzen August weg. Dies würde in den nächsten zwei Jahren nicht besser werden, im Gegenteil. Deshalb musste ich mir eingestehen, dass mir der riesige Aufwand, um 2020 in Tokio nochmals eine Olympia-Medaille zu holen, nicht wert war. 

Also hat die Motivation gefehlt. 

Das ist richtig. Ich bin nun an einem Punkt, an dem sich gewisse andere Möglichkeiten ergeben haben. Und wenn man Spitzensport macht, muss man darauf alles setzen. Es gab aber Dinge, die nicht zwei Jahre lang warten konnten.

Was konnte nicht warten?

Ich habe zwei, drei gute Jobangebote erhalten. Manchmal ist es vielleicht ein bisschen Zufall oder Schicksal, dass nun alles zur selben Zeit kam. Die Angebote hatte ich jetzt, vielleicht hätte ich die in zwei Jahren nicht mehr gehabt. 

Wie sehen die Jobangebote aus?

Ich habe noch nichts unterschrieben, vielleicht kann ich in zwei Wochen diesbezüglich mehr verraten. Die Angebote stammen aus der Privatwirtschaft.

Sie sind nach einem Jahr Pause in dieser Saison in der offenen Kategorie wieder eingestiegen. Haben Sie sich den Wechsel von den Leichtgewichten zu den Schwergewichten zu einfach vorgestellt?

Dass ich nicht gleich von Beginn an vorne mitfahren würde, war mir bewusst. Ich bin erst im März zurückgekommen. Da war mir klar, dass ich eine Saison brauche, um wieder heranzukommen. Und wenn man das WM-Ergebnis anschaut, sieht man, dass nur wenig gefehlt hat, um in den Halbfinal zu kommen. Das zeigt mir, dass mehr möglich gewesen wäre. Von der Technik her oder wie ein Rennen gefahren wird, gibt es zwischen Leichtgewichten oder Schwergewichten keine Unterschiede. Was ich jedoch unterschätzt habe, ist, dass die Muskelzunahme gar nicht so einfach ist. 

Inwiefern?

Mit über dreissig Jahren konnte ich nicht mehr so schnell Muskeln zulegen, wie das noch in jüngeren Jahren der Fall war. Zudem habe ich festgestellt, dass ich vom Körperbau sicher nicht mehr der Athlet werde, der mit 1,87 m 95 Kilogramm wiegt. Ich bin der Ausdauertyp, nicht der Muskelprotz.

 

Leichtgewichts-Einer-Europameister Michael Schmid (30) vollzieht nun denselben Wechsel. 

Er ist vielleicht ein bisschen anders gebaut als ich. Seine grösste Herausforderung dürfte wohl eher seine Grösse sein. Er ist 1,78 m gross. Ich bin sehr gespannt, ob er es schafft, dies wettzumachen. Ich bin mit 1,87 m im Normalfall gross, unter den Spitzenruderern bin ich jedoch ein Zwerg. Seinen Wechsel kann ich jedoch gut nachvollziehen, denn immer das Gewicht zu halten, geht auch an die Substanz – vor allem im Alter.

Zurück zu Ihnen: Sie sind bei drei Start-ups involviert, und bei mehreren Projekten und Stiftungen eingespannt. Wann haben Sie gemerkt, dass der Spitzensport bei Ihnen selber nicht mehr die höchste Priorität hat?

Wenn ich mir etwas vorwerfen würde im letzten Jahr, dann wäre es genau dies. Ich habe zwar immer gesagt, dass der Sport die höchste Priorität hat, aber daneben habe ich zu viele andere Sachen gemacht. Ich habe zwar immer noch 30 Stunden in der Woche trainiert, aber der Erholung habe ich zu wenig Zeit gegeben. Wenn man am Abend noch zwei Stunden am Computer arbeitet, anstatt um 22 Uhr ins Bett zu gehen, dann merkt man das. Als Spitzensportler ist es über eine längere Zeit nötig, genug Schlaf zu bekommen. Ich war konstant mit dem Energie-Haushalt im Minus. 

Das war zu Ihrer erfolgreichen Zeit sicher anders. 

Genau. Klar, habe ich das Glück, dass ich ein gewisses Talent und ein gutes Bootsgefühl mitgebracht habe, aber auch dann muss man viel arbeiten, um solche Erfolge zu feiern. Ich habe von 2010 bis 2016 alles dem Rudersport untergeordnet. Als ich realisiert habe, dass dies zuletzt nicht mehr so war, musste ich mich hinterfragen. Wenn ich 2020 nach Tokio gegangen wäre, wäre ich angetreten, mit dem Ziel eine Medaille zu holen. Das wäre nur möglich gewesen, wenn ich dafür viel anderes aufgegeben hätte. So habe ich mich zum Rücktritt entschieden. Mein Glück ist, dass ich alles Erträumte erreicht habe und ich keine gesundheitlichen Folgeschäden davongetragen habe. 

Das Highlight Ihrer Karriere ist zweifellos der Olympiasieg 2016 im Leichtgewichts-Vierer. Wie blicken Sie darauf zurück?

Es ist natürlich immer noch unglaublich schön. An jenem Tag lief alles so, dass es irgendwie klar war, dass wir nur gewinnen konnten. 

Wie meinen Sie das?

Wir waren vor dem Start zuerst alle unglaublich nervös. Doch zwei Minuten vor dem Rennen wurde ich plötzlich ruhig, dies hat auf meine Teamkollegen abgefärbt. Im Rennen lief es dann plötzlich. Bei 1250 m sollte jeweils ein bestimmter Teamkollege die «Goldbombe» ansagen. Ausgerechnet im Final hat er dies nicht gemacht, vielleicht hat er es vergessen. Ausgerechnet derjenige, der sonst nie ein Wort sagte, hat dann das Kommando übernommen. Jeder von uns ist voll mitgezogen. Diese Anekdote zeigt, was uns ausgemacht hat. Unser Siegeswille war enorm gross. 

Nach diesem Olympiasieg waren in der Öffentlichkeit fast nur Sie als Schlagmann präsent. Warum?

Das war etwas, was mich gestört hat. Anders als etwa im Fussball, wo der linke Aussenverteidiger in einem Spiel wenig Anteil haben kann, das Team aber trotzdem 1:0 gewinnt, ist es im Rudern so, dass alle an einem Strang ziehen müssen. Das Boot ist immer so gut wie das schwächste Glied. Deshalb ist der Olympiasieg vor allem eine Teamleistung. 

Haben Sie die Öffentlichkeit aber auch ein Stück weit gesucht?

Natürlich ist es auch eine Charakterfrage. Ich halte zum Beispiel heute Motivationsvorträge für Firmen, ein anderer macht das nicht, obwohl er im entscheidenden Moment derjenige war, der nochmals gepusht hat. Doch in der Rolle als einziges Aushängeschild habe ich mich nie wohlgefühlt. Nach dem Olympiasieg wurde ich ins «Sportpanorama» eingeladen, da habe ich geantwortet, dass ich die Teamkollegen mitnehmen möchte. Das SRF sagte aber: «Du oder keiner.» Natürlich wollten wir die Bühne für den Rudersport nutzen, so ging ich alleine hin. Für mich bedeutet die Auszeichnung «Team des Jahres» am meisten. Die Erfüllung meiner Träume wäre ohne Teamkollegen nicht möglich gewesen.

Wie sind Sie überhaupt zum Rudern gekommen?

Ich habe lange Fussball gespielt, zuerst beim Luzerner SC, danach beim FC Luzern, wo ich unter anderen mit Christoph Lambert und Genc Mehmeti zusammenspielte. In der U16 habe ich mich verletzt. Der Physio-Therapeut meinte, ich solle beim Rudern meinen schwachen Rücken stärken. Als ich beim Seeclub Luzern angefangen habe, dachte ich zuerst, dass alle Ruderer spinnen. Das Training war früh am Morgen, statt wie im Fussball fünf Trainings hatten wir plötzlich zehn Einheiten pro Woche. Aber als ich merkte, dass ich ein gewisses Talent hatte und den viel kräftigeren Jungs davonrudern konnte, machte es Spass. Als kleiner Junge hatte ich davon geträumt, mal den WM-Pokal im Fussball zu gewinnen oder Olympiasieger zu werden. Als ich relativ rasch ins Nationalkader kam, merkte ich, dass der Olympiasieg tatsächlich irgendwann möglich sein könnte. 

Den Traum haben Sie verwirklicht, nun kehren Sie dem Spitzensport den Rücken. Was werden Sie vermissen?

Mir wird sicher das Gefühl fehlen, dass man sich auf ein Team hundertprozentig verlassen kann, ebenso werde ich die körperliche Fitness vermissen. Es wird nicht mehr möglich sein, dass ich eine Stunde rennen kann, ohne müde zu werden. Im Alltag fehlt mir sicher auch die Überprüfbarkeit. Die Resultate im Training zeigen jeden Tag, ob man die Leistung gebracht hat oder nicht. Das hat man in der Arbeitswelt nicht.

Publiziert in der Luzerner Zeitung 11. Oktober 2018.

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