Marlen Reusser ist die beste Radfahrerin der Schweiz. Ihr Aufstieg schreit nach einer Heldengeschichte. Sie wünscht sich das Gegenteil.
Wer sich mit Marlen Reusser auseinandersetzt, der kommt so schnell nicht mehr aus dem Staunen heraus. Dem Klischee einer typischen Profisportlerin entspricht die Bernerin auf alle Fälle nicht. Einst war sie an der Hochschule der Künste auf dem Weg, professionelle Geigenspielerin zu werden, stattdessen wurde sie Assistenzärztin im Spital Emmental. Daneben war sie Kantonalpräsidentin der Jungen Grünen des Kantons Bern und kandidierte für den Nationalrat. 2017 bestritt sie ihre ersten Rad-Rennen, seit 2019 ist sie Veloprofi. Marlen Reusser ist EM-Dritte und WM-Zweite im Zeitfahren und gilt als eine der grössten Schweizer Olympiahoffnungen für Tokio.
Kein Wunder, lesen sich Artikel über die 29-Jährige aus Hindelbank oft wie Heldengeschichten. «Diese Frau kann fast alles», titelte der «Tages-Anzeiger» im April. Mit solchen Titeln kann Reusser wenig anfangen. «Es gibt so viele Dinge, die ich nicht kann. Ich bin keine Heldin. Bitte heben Sie mich in Ihrem Artikel nicht auf einen Thron», macht sie zu Beginn des Gesprächs klar.
Das Unwohlsein im Peloton
Es wird ein Gespräch, in dem es auch um das Velofahren geht, aber bei weitem nicht nur. Man trifft sich auf dem heimischen Bauernhof in Hindelbank. Marlen Reusser ist dort aufgewachsen und wieder dort hingezogen. Sie spricht über ihre Weltanschauung, über die Politik und den Klimaschutz. Sie erzählt von ihren Anfängen beim Velofahren, als sie merkte, dass sie über einen beeindruckenden Motor verfügt, ihr Talent aber unwahrscheinlich lange unentdeckt blieb. Und sie blickt zurück auf jene Zeit, in der sie sich selber unter Druck setzte, beim Geigenspielen fehlerlos zu werden, und die Freude daran verlor. Daraus habe sie für das Velofahren gelernt. Sie möchte sich nicht unter Druck setzen, sondern «einfach nur herausfinden, wie gut ich werden kann».
Als Marlen Reusser begann, Velorennen zu fahren, verstand sie davon wenig. Nicht einmal im Fernsehen hatte sie sich Rennen angeschaut. Das erste Mal im Peloton fand sie schrecklich. «Diese Kämpfe mit den Ellenbogen, diese Fights um die besten Positionen: Ich kannte dies gar nicht. Auch von Taktik verstand ich nichts», erzählt sie. Bei jedem Angriff ging sie mit, in der Hälfte des Rennens war sie «blau» und rollte noch irgendwie ins Ziel.
Inzwischen hat Reusser dazugelernt, sie weiss, wie sie sich im Feld verhalten soll. Doch noch immer fühlt sie sich alleine auf der Strasse am wohlsten. Im Zeitfahren holte sie an den Weltmeisterschaften im letzten Jahr in Imola die Silbermedaille.
Der nächste Höhepunkt einer Karriere, die nur eine Richtung kennt: nach oben. Kommt eine erneute Steigerung, gibt es in diesem Jahr Edelmetall an den Olympischen Spielen. Und an der WM will sie diesmal den Titel. Das Timing ist perfekt: Am Tag ihres 30. Geburtstags findet das Zeitfahren statt. «Es wäre so witzig, wenn ich an meinem 30. Geburtstag Weltmeisterin würde», so Reusser.
Die erstmalige Tour de Suisse
Weniger gross in die Agenda eingetragen hat sich die Bernerin die erstmalige Austragung der Tour de Suisse, die am kommenden Wochenende steigt. Der Grund: Die beiden Etappen passen nicht in ihre Saisonplanung und auf ihr Fahrerprofil. Letzteres ist etwas, das in Schweizer Radsportkreisen für Kritik sorgt. Wäre die Tour wie bei den Männern mit einem Zeitfahren gestartet, die Bernerin wäre Topfavorit gewesen. Stattdessen kommt Marlen Reusser nun eine besondere Ehre zuteil: Sie darf beim Zeitfahren der Männer ran. Kurzerhand wurde organisiert, dass sie vor den Männern startet. Ihre Fahrt zählt nicht für die Wertung, aber gilt als gutes Training für die Olympischen Spiele. «Ich habe dann schon zwei Etappen in den Beinen», sagt sie. «Aber natürlich werde ich alles raushauen und zeigen, dass wir Frauen durchaus schnell radfahren können.» Mit den männlichen Zeitfahrspezialisten wird sie sich kaum messen können. Doch Experten rechnen damit, dass sie die anderen Männer abhängt.
Marlen Reusser ist in vielen Bereichen anders als andere Veloprofis. Sie ist eine Späteinsteigerin, die nicht die übliche Nachwuchsleiter bei Swiss Cycling hochgeklettert ist. Das bemerkt man, auch wenn sie sich öffentlich äussert. Viele schärften ihr ein, sie solle sich nicht politisch äussern. Dennoch tut sie es. «Als Person des öffentlichen Interesses finde ich es richtig, wenn ich meine Meinung sage.»
Eigentlich ist sie kein Lautsprecher, sie versteht es aber, sich für ihre Anliegen einzusetzen. Zum Beispiel für die Ökologie. Das Velofahren ist klimafreundlich, der Profi-Radsport ist es nicht. Daran stört sich Reusser. «Früher bin ich nie geflogen, heute muss ich dies beruflich.» Ein schlechtes Gewissen fliegt immer mit. «Aber Spitzensport geht leider nicht ökologisch. Wir wollen uns international messen, dafür müssen wir um die Welt reisen. Da kann ich wenig tun», sagt sie.
Die Bioeier im Profiteam
Was sie tun kann: kleine Dinge verändern. So geschehen in ihrem Team Alé BTC Ljubljana. Reusser, seit Kindesbeinen Vegetarierin, hat so lange Bioeier gewünscht, bis das Team diese gekauft hat. «Manchmal bin ich mit meinen Ansichten ein bisschen ein Exot im Radzirkus», findet Reusser. Das war schon früher auf dem Gymnasium der Fall, wenn sie sich für den Klimaschutz engagierte. «Ich möchte eigentlich nicht anecken, aber manchmal ist es richtig, sich für seine Interessen einzusetzen.» Dies trifft auch auf die Gleichberechtigung im Radsport zu.
In keiner anderen Sportart, ausser vielleicht dem Fussball, ist der Unterschied zwischen Frau und Mann grösser als beim Radfahren. Die Männer haben grosse Beachtung, während prestigeträchtige Wettkämpfe wie die Tour de France bei den Frauen nicht existieren. Die finanzielle Entschädigung ist bei den Männern deutlich höher. Selbst durchschnittliche männliche Radprofis verdienen mehr als die WM-Silbermedaillengewinnerin. «Dabei ist unser Niveau hoch», ist Reusser überzeugt. Und sie sagt: «Ein Frauen-Rennen ist nicht langweiliger für die Zuschauer als ein Männer-Rennen.» Deshalb setzt sie sich dafür ein, dass das Schweizer Fernsehen mehr Frauen-Rennen zeigt. «Das ist wichtig, damit der Sport vorwärtskommen kann», sagt sie. Dass es die Tour de Suisse nun für Frauen gibt, gefällt ihr. Aber es ist noch mehr möglich. Genauso wie für Marlen Reusser auf dem Velo.
Publiziert in den Tageszeitungen von CH Media: Hier ist der Link