Nino Schurter startet an der Mountainbike-Weltmeisterschaft anders als früher nicht mehr als Topfavorit. Der Bündner macht sich Gedanken über seine Zukunft.
Die Strecke in Val di Sole kennt Nino Schurter bestens. 2008 holte er im Trentino den U23-Weltmeistertitel, seither siegte er in fünf von sieben Weltcup-Rennen und stand auch zwei weitere Male auf dem Podest. «Mir gefällt es hier ausgezeichnet. Ich durfte hier viele Erfolge feiern», sagt er und setzt auch mit 35 Jahren noch sein spitzbübisches Lächeln auf.
An dieser WM, 13 Jahre nach seinem U23-Weltmeistertitel und nach Jahren der Dominanz, ist Schurter nicht mehr Topfavorit auf den Titel. Er, der seinen Sport in das Scheinwerferlicht gebracht hat, scheint über dem Zenit zu sein. Wobei dies bei Nino Schurter heisst, dass er an den Olympischen Spielen in Tokio immer noch Vierter wurde.
Viele Sportler werden häufig mit Roger Federer verglichen. Meist ist das übertrieben. Bei Nino Schurter passt es. Der Bündner ist achtfacher Weltmeister, siebenmal holte er den Gesamtweltcup. Er ist schlicht der Grösste seiner Sportart. Und wie Federer muss sich auch Schurter damit beschäftigen, wann der richtige Zeitpunkt für einen Rücktritt gekommen ist.
Der Mountainbikestar lässt sich dabei auch vom Tennisstar inspirieren. «Ich schaue genau, wie Roger Federer mit diesem Thema umgeht», erzählt er. «Ich finde es durchaus gut, wie er das löst. Es ist sehr sympathisch, dass er solange spielen möchte, wie er Spass daran hat. Da ich im Vergleich zu ihm keine gesundheitlichen Probleme habe, ist dies für mich ein Grund mehr, solange weiterzumachen, wie es noch Spass macht.» Und Schurter gefällt das Mountainbiken immer noch sehr. So gut, dass er nach Tokio plötzlich überraschend weit nach vorne blickt: Bis zu den Olympischen Spielen 2024 in Paris. «Es ist möglich, dass ich dann noch starte.»
Der Bündner hätte nach Tokio einen Schlussstrich hinter seine unvergleichliche Karriere ziehen können. Aber Schurters Ehrgeiz bleibt trotz der vielen Erfolge ungebrochen. «Wenn alles zusammenkommt, kann ich immer noch gewinnen. Meine Trainingsresultate sind nicht schlechter als früher. In den Rennen hat es einfach noch nicht ganz gepasst.»
Doch zur Wahrheit gehört auch, dass andere Athleten den einstigen Dominator inzwischen überholt haben. Etwa der 22-jährige Olympiasieger Tom Pidcock, der auch als Favorit auf den WM-Titel gestartet wäre, würde er nicht die Vuelta bestreiten. Selbst in der Schweiz ist Schurter nicht mehr der Beste, wie nicht zuletzt die olympische Silbermedaille für Mathias Flückiger bewies. In Abwesenheit Pidcocks und des Niederländers Mathieu van der Poel startet der Berner Flückiger als Topfavorit ins WM-Rennen.
Bei Nino Schurter geht es in Gesprächen derweil selten um seinen möglichen neunten WM-Titel, dafür wird öfters die Frage nach der Zukunft gestellt. 2018 spricht Schurter erstmals von seinem Rücktritt, nachdem er die Auszeichnung als Schweizer Sportler des Jahres erhielt. Er sagte: «Es war eine harte Nuss, ganze zehn Anläufe hat es gebraucht. Umso schöner ist es. Jetzt könnte ich eigentlich aufhören, ich habe alles gewonnen, was mir wichtig war.»
Schurter fährt auch nach dem Rücktritt weiter
Seit Jahren bestreitet Schurter als Saisonvorbereitung das Mountainbike-Etappenrennen Cape Epic in Südafrika, und im Oktober startet er auf Elba erstmals an der Marathon-Weltmeisterschaft. Schurter reizt es, künftig mehr solche Events zu bestreiten. Dies könnte auch finanziell interessant sein. Verträge mit Sponsoren und Ausrüstern könnten wohl auch so noch weiterlaufen. Doch Schurter sagt: «Die Finanzen spielen eine untergeordnete Rolle.»
Für Schurter gibt es auch noch ein anderes Leben als jenes des Mountainbikestars. Jenes des Familienvaters und des fürsorglichen Ehemannes. Seine Frau Nina leidet seit dreizehn Jahren an Multipler Sklerose. Deshalb kann er nach einem Training nicht einfach die Beine hochlagern, sondern kümmert sich um Tochter Lisa oder wäscht, putzt und kocht. Für das Ehepaar, das beeindruckend mit der Situation umzugehen scheint, ist zu hoffen, dass diese Krankheit keinen Einfluss auf den Zeitpunkt des Karriereendes haben wird.
Stattdessen will Schurter den Zeitpunkt des Rücktritts von den Gefühlen abhängig machen. «Es muss sich richtig anfühlen. Aber ich bin noch mitten im Prozess. Ich bin gespannt, wie die nächsten Rennen verlaufen.» Vor der Entscheidung steht nun also das WM-Rennen in Val di Sole an – wo sich Nino Schurter besonders wohlfühlt.
Publiziert in der Schweiz am Wochenende: Hier der Link