Es war ein Run in die Geschichtsbücher. 2018 hat die Genferin Sarah Höfflin alle überrascht, als sie vor ihrer Teamkollegin Mathilde Gremaud sensationell Olympiagold im Ski-Slopestyle holte. Vier Jahre später ist sie erneut die grösste Medaillenhoffnung der Schweizer Freestylerinnen.
Sarah Höfflin, 2018 kam der Olympiasieg überraschend. In diesem Jahr ist die Erwartungshaltung eine andere. Was macht das mit Ihnen?
Der Druck ist gestiegen. Aber darüber denke ich nicht nach. Natürlich wäre es schön, den Titel zu verteidigen, die Chancen sind intakt, wie für alle anderen auch in den Top Ten. Ich will einfach mein Ding durchziehen – und wenn es funktioniert, ist es umso besser. Und wenn nicht, dann sollte es nicht sein.
Speziell an Ihrem Olympiasieg war auch, dass Ihre Brüder und Ihr Vater Sie an den Spielen zum allerersten Mal an einem Wettbewerb gesehen haben. Wie kam es zu diesem speziellen Fakt?
Nur meine Mutter war davor schon an Wettkämpfen gewesen. Ich war da ja erst in meiner zweiten Profisaison und es hat sich bis dahin nie ergeben. Ein Bruder lebt in Sydney, der andere in England. Als ich dann an die Spiele konnte, wollten plötzlich alle dabei sein. Dass ich gewonnen habe, war dann eine gelungene Überraschung.
Die Familie hat Ihnen offenbar Glück gebracht.
Das stimmt. Meine Mutter ist so witzig: Sie gibt mir immer wieder Glücksbringer. Heute Morgen hat sie mir einen Ring gegeben, den ihr mal mein Vater geschenkt hat. Sie sagte: «Dadurch hast du immer deine beiden Elternteile bei dir.» Ich musste lachen: Glück gebracht hat der Ring ihr ja wahrlich nicht. Meine Eltern haben sich getrennt, als ich noch ein Kind war. Ich weiss darum noch nicht, ob ich den Ring an die Spiele mitnehme.
Von der Newcomerin und Spätzünderin wurden Sie zur Olympiasiegerin. Was hat sich dadurch verändert?
Extrem viel. Ich konnte neue Sponsoren finden, habe viele tolle Menschen kennengelernt. Der Olympiasieg hat mir viele Türen geöffnet. Ausserdem durfte ich vor vielen Schulkindern sprechen und konnte einen TED-Vortrag halten, was eine wirklich tolle Erfahrung war. Sportlich kam dazu, dass ich zu allen Wettbewerben eingeladen wurde, die man sich erträumen kann. Ich durfte zum Beispiel immer an die X-Games, obwohl es dort nur acht Plätze gibt.
In einer Woche starten die X-Games, danach reisen Sie an die Olympischen Spiele, die unter schwierigen Vorzeichen stehen. Wie gross ist derzeit Ihre Sorge vor einer Coronainfektion?
Eine Unsicherheit ist immer da. Aber ich habe mich boostern lassen und bin so vorsichtig wie nur möglich. Ich kann sagen, dass ich alles gemacht habe, was ich kann. Doch selbst wenn ich im dümmsten Fall die Spiele verpassen würde, wäre das nicht das Ende der Welt. Andere haben unter der Pandemie viel mehr gelitten als ich.
Sie wurden 2018 nicht als Sportlerin des Jahres nominiert – obwohl sie Olympiasiegerin wurden. Darüber waren Sie nicht erfreut.
Ich habe das selber gar nicht richtig verfolgt. Bei einer solchen Wahl geht es vor allem um die Beliebtheit. Viele Menschen in meinem Umfeld fanden es eine Frechheit, dass ich nicht nominiert war. Doch ich habe die Sendung noch nie gesehen und mir gesagt, dass sie wahrscheinlich eh nicht gut ist.
Es zeigt aber auch, welchen Stellenwert Ihre Sportart hat.
Das stimmt. Wir Athletinnen und Athleten versuchen genau das zu ändern. Ski-Freestyle ist viel neuer als die meisten anderen Wintersportarten. Und es ist schwieriger, als Laie zu verstehen, warum manche Tricks mehr Punkte geben als andere. Als TV-Zuschauer ist es einfacher ein Alpin-Rennen zu schauen, in dem der Schnellste gewinnt. Sportarten, die einfach zu verfolgen sind, ziehen automatisch ein grösseres Publikum an. Trotzdem ist unser Sport seit den letzten Olympischen Spielen gewachsen, mehr Mädchen beginnen damit. Ich glaube, es ist wichtig, auch den Eltern die Angst zu nehmen. Denn Ski-Freestyle ist nicht gefährlicher als das Alpin-Skifahren.
Ihre Biografie liest sich beachtlich: Sie haben Ihre Jugend in England verbracht und bestritten erst mit 26 ihre erste Profisaison. Wie ist so etwas möglich?
Als ich in der Universität in Cardiff studierte, eiferte ich einigen Britinnen nach, die mich inspiriert haben. Ich habe einfach das getan, was ich machen wollte: Skifahren. Und dann hatte ich eine Menge Glück. Ich habe die richtigen Leute zur richtigen Zeit getroffen. Plötzlich wurde ich von Swiss-Ski gefragt, ob ich Teil des Nationalteams sein möchte. Ich habe Ja gesagt – obwohl ich gar noch nicht genau wusste, was das bedeutet.
Sie haben davor in Skihallen trainiert, die man in England «Fridges» nennt.
Ich arbeitete damals nach meinem Studium in Manchester. Den Job habe ich absolut gehasst und ich kannte niemanden in Manchester. Da habe ich mir im «Fridge» einen Skipass für drei Monate gekauft und war jeden Tag dort. Die Halle war richtig langweilig. Schon gar nicht empfehlenswert für jemanden aus der Schweiz. Aber das war egal: Ich konnte Skifahren. Zu dieser Zeit fand ich einen Gymnastikkurs und versuchte mich im Trampolinspringen. Das hat mir für die Profikarriere dann sehr geholfen.
Das Skifahren haben sie als Kind in der Schweiz gelernt. War schon da zu erkennen, dass Sie Talent besitzen?
Nein, ich glaube nicht. Wir gingen häufig mit der Familie Skifahren und ich habe es geliebt. Ich wurde zwar häufig gelobt, aber ich glaube, das war nur, weil ich ein Mädchen war. Ich weiss noch, wie ich immer neidisch auf die coolen Kids war, die im Skiklub waren. Sie hatten moderne Skier mit perfekten Bindungen und coole Jacken. Ich dagegen hatte nur alte, hässliche Kleider. Solche, die mal irgendeiner Grosstante gehört haben.
Wann wurden Ihre Kleider cooler und die Skier besser?
Das war, als ich in England studierte. Mit der Universität gingen wir in ein Skilager. Bis dahin war ich noch nie in einem Park gewesen. Doch ich konnte einen Three–Sixty springen, also eine ganze Drehung. Das haben einige gesehen und gesagt, ich solle bei einem Wettbewerb mitmachen. Für die Siegerin gab es ein rosafarbenes Paar Skier. Weil ich noch irgendwelche alten Dinger fuhr, machte ich mit. Mein Sprung war alles andere als perfekt, aber damit habe ich gewonnen. Diese Skier sind das beste, was ich je gewonnen habe.
Wenn man Ihnen, Mathilde Gremaud, Andri Ragettli oder Fabian Bösch auf Instagram folgt, sieht der Alltag eines Ski-Freestylers nach Spass aus. Ist das wirklich so?
Es ist genau so. Oder noch extremer, weil wir nicht alles posten. In den sozialen Medien sieht man nur eine abgespeckte Version. Wenn uns jemand mit der Kamera begleiten würde, würde es das beliebteste Video überhaupt geben. Wir haben so viel Spass. Doch ich kann mir nicht vorstellen, dass man mit uns abhängen möchte. Wir sind einfach zu verrückt.
Was passiert, wenn die Smartphones aus sind?
Wir machen einfach immer Blödsinn. Als wir für drei Wochen in den USA waren, haben die Jungs für dreihundert Dollar Spielzeuge wie Golfschläger oder Nerf-Guns gekauft. Dann haben wir irgendwelche Trickschüsse gemacht, es war so lustig. Aber natürlich sah es in unserem Haus nach kürzester Zeit nur noch ekelhaft aus.
Das Image stimmt also: Freestyler haben mehr Spass als Alpin-Skifahrer.
Und wie! Das dürfen Sie genau so schreiben. Bei uns ist es viel witziger. Doch auch wir nehmen unseren Beruf ernst. Es ist sehr selten, dass niemand von unserem Team auf einem Podest steht. Dahinter steckt harte Arbeit. Wir Freestyler zeigen das einfach weniger häufig als die Alpinen. Wenn die ins Fitnessstudio gehen, posten sie das auf Instagram. Alle sollen sehen, wie hart sie arbeiten. Wir trainieren genauso hart, zeigen aber lieber witzige Dinge.
Zur Person
Sarah Höfflin, 31, wurde als Kind eines Schweizers und einer Neuseeländerin in Genf geboren. Als Zwölfjährige übersiedelte sie in den Westen Englands. An der Universität Cardiff studierte sie Neurowissenschaften. Nach dem Abschluss arbeitete Höfflin zwei Winter in den Alpen, dazwischen trainierte sie in einer Skihalle in Manchester. Seit Herbst 2016 ist sie Profi, 2018 wurde sie Olympiasiegerin. Höfflin lebt mit ihrem Freund, dem Filmemacher Will Derrick, in Chamonix.
Publiziert in den Tageszeitungen von CH Media: Zum Link