Abseits der Premier-League-Millionen aus Katar, Russland und den Vereinigten Staaten bewundern die Zuschauer in unteren Profiligen noch den typisch britischen Fussball. Ein Besuch beim Drittligisten Leyton Orient.
Der Regen fällt in Strömen, bitterkalt weht der Wind an diesem grauen Januarabend in das typisch englische Stadion im Osten Londons. Trotz kalten Temperaturen kennt England anders als andere europäischen Ligen keine Winterpause. Kurz vor dem Schweizer Rückrunde besuchen wir Leyton Orient aus der Football League One, der dritthöchsten englischen Liga.
In Leyton, eine U-Bahn-Station vom olympischen Stadion in Stratford entfernt, scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Angekommen vor dem Stadion an der Brisbane Road mit Baujahr 1937 fallen als erstes die schmalen Eingänge ins Stadioninnere auf. Nicht einmal eine Tür breit sind sie, während im Innern ein Angestellter darauf wartet, ein Teil des Tickets abzureissen. Von elektronischen Hilfsmittel ist man in Leyton noch weit entfernt. Auch die Sicherheitsvorschriften scheinen aus vergangen Jahren zu stammen. Während in der Schweiz Diskussionen über noch genauere Körperkontrollen entstanden sind, wird darauf in der Football League One gänzlich verzichtet. Ein Ordner wirft einzig ein kurzer Blick in die Tasche.
Die Kommerzialisierung, welche vor allem in der Premier League mittlerweile allgegenwärtig ist, scheint am zweitältesten Londoner Club (nach Fulham) spurlos vorbei gegangen zu sein. Während heuzutage fast jedes Super-League-Stadion mindestens einen grossen Screen besitzt, auf welchem sich unter anderem die verschiedenen Sponsoren präsentieren können, sucht dies ein Zuschauer in Leyton vergeblich – nicht einmal eine Anzeigetafel findet der aufmerksame Beobachter. Auf den zweiten Blick wird allerdings erkennbar, dass der moderne Fussball auch hier seine Spuren hinterlassen hat. Die Football League One nennt sich offiziell «Sky Bet League 1», Trikotsponsoren von Leyton sind Samsung und Electonics Art, welches mit dem allseits beliebten Spiel «FIFA 14» wirbt. Und selbst das Stadion heisst offiziell «Matchroom Stadium», benannt nach dem Sponsor «Matchroom sport».
Wenn es nach den Verantwortlichen von Leyton ginge, würde der Traditionsverein bald das Stadion wechseln. Orient hatte Interesse angemeldet ins Olympiastadion im nahgelegenen Stratford zu wechseln. Schliesslich erhielt allerdings der Premier-League-Club West Ham den Vorzug.
Gutes Spiel und Sieg für Orient – mit bekanntem Gesicht im Tor
Zu Gast in Leyton ist an diesem kalten, windigen und regnerischen Dienstagabend Coventry City – ein typischer Mittelfeldclub der Liga. Nicht nur das Wetter zeigt sich britisch, auch die Startminuten gestalten sich so, wie sich dies ein Schweizer Fussballfan vorstellt, wenn er an ein Spiel der unteren Profiligen Englands denkt. Nach dem Anspiel für Leyton wird mit einem langen Zuspiel die Offensive gesucht – der Ball landet allerdings im Aus. Auch in der Folge ist es kein Augenschmaus, was die beiden Mannschaften auf das schwerbespielbare Grün kämpfen. Durch schnelles Umschalten nach Ballgewinnen kann sich Orient zwar im vom Kampf dominierten Spiel immer wieder in die Gefahrenzone vor dem Tor Coventrys bringen. Das Chancenplus können die Hausherren aber vorerst nicht in zählbaren Erfolg ummünzen.
«The O’s», wie sie von ihren Fans liebevoll genannt werden, drücken auch nach der Pause weiter. Nachdem ihnen Referee Michael Bull vorerst noch einen Handspenalty verwehrt, entscheidet dieser nur wenige später auf einen Foulelfmeter für Orient. In Coventrys Strafraum ist Leytons Dagnell regelwidrig von den Beinen geholt worden. Den fälligen Elfmeter vermag Dagnells Sturmpartner Lisbie allerdings nicht zu verwerten. Dennoch jubeln die Anhänger des Heimteams nur eine Zeigerumdrehung später. Cox netzt nach einem Durcheinander im Strafraum Citys zur verdienten Führung für Orient ein.
Danach kommt der grosse Auftritt von Leytons Publikumsliebling David Mooney. Die Nummer zehn gibt nach zweimonatiger Verletzungspause sein Comback für «The O’s». Bereits während dem Einlaufen immer wieder angestimmt, hallt von den Rängen bei seiner Einwechslung ein langes «David Mooooooney». Dass er nicht nur beliebt, sondern auch ein guter Fussballer ist, zeigt er wenig später. Sein Distanzschuss aus ungefähr 25 Meter landet nach einer Unsicherheit von City-Torhüter Joe Murphy im Tor. 2:0 für Leyton, was die Entscheidung in diesem Spiel bedeutet. Mit dem Sieg sichert Orient seine Spitzenposition und bleibt nach Punktverlusten Leader der Football League One.
Bei den O’s steht übrigens ein altbekanntes Gesicht zwischen den Torpfosten. Der ehemalige Thuner-Champions-League-Held Eldin Jakupovic wurde Anfangs Januar von Hull City an Leyton ausgeliehen. Anfangs noch mit einigen Unsicherheiten, steigert sich der Schlussmann während der Partie, um in der Schlussphase zum sicheren Rückhalt Orients zu werden. Mit mehreren starken Paraden kann Jakupovic den Sieg seiner Mannschaft festhalten. Allerdings ist es bereits seine letzte Partie im Dress Leytons, da er nach dieser Partie wieder zu Hull zurückkehren wird, nachdem sich Stammkeeper McGregor eine Sperre eingehandelt hat.
Abseits der grossen Bühne
Insgesamt dreizehn Profivereine gibt es in der fussballverückten englischen Hauptstadt. Während sich in anderen Stadteilen Londons grosse Namen wie Özil, Lampard oder Lennon duelieren, bevorzugen es die Fans von Orient einem Drittligisten beizuwohnen und dabei Fussball geboten zu bekommen, welcher sich höchstens auf Challenge-Leauge-Niveau befindet.
Trotz schrecklichem Wetter finden sich auch an diesem kalten Dienstagabend über 5’000 Zuschauer im Kleinstadion ein. Während in der Schweiz Fahnen geschwenkt werden, die Fans 90 Minuten durchsingen und manchmal Pyros gezündet werden, zeigt sich die Fankultur in Leyton von anderer Natur. Sowohl gute als auch schlechte Aktionen werden kritisch bewertet. Nach einem gewonnen Kopfballduell oder geglückter Grätsche bricht schonmal ein tobender Applaus aus, auch wenn mit dem gewonnen Ball nichts angefangen werden kann. Wenn dann mal gesungen wird, singt allerdings das ganze Stadion. Selbst Männer in ihren späten Fünfzigern oder Sechzigern bewegen sich zum Beispiel nach Mooneys Tor zum 2:0, stehen auf und singen aus ganzer Kehle für ihr Leyton Orient.
Nach dem Sieg und der erneuten Verteidigung der Spitzenposition ist für die Fans Leytons nun sogar träumen erlaubt. Der Aufstieg in die Championship scheint realistisch und damit vielleicht auch das von Orient erhoffte East-London-Derby mit West Ham, welches momentan in der Premier League auf einem Abstiegsplatz liegt.
Publiziert auf kurzpass.ch am 30. Januar 2014.