Die Fussballerin ist in den sozialen Medien ein Superstar. Und wird dafür immer wieder kritisiert. Dabei gebührt ihr grosser Respekt.
Alisha Lehmann ist der Superstar unter den Schweizer Fussballerinnen. Doch die Wahrheit ist auch: Keine Spielerin polarisiert mehr als sie. Weil sie in den Sozialen Medien erfolgreicher ist als auf dem Platz. So titelte das Aargauer Fussballmagazin «Hattrick» kürzlich: «Alisha Lehmann als Vorbild?» Die Kolumne endete mit der Frage: «Sollen die jungen Frauen tatsächlich mit aufgeklebten Wimpern, Lippenstift und Make-up-Dosen ins Training?» Die Erklärung, wieso sie dies nicht sollten, wird nicht mitgeliefert.
Die Bernerin ist Fussballerin, kickt für Aston Villa und am Freitag in Zürich wieder für die Schweiz in der EM-Qualifikation gegen die Türkei, aber Lehmann ist viel mehr als das. In den sozialen Medien ist sie der grösste Schweizer Superstar. Über 16,5 Millionen Menschen folgen der 25-Jährigen auf Instagram. Sie überflügelt damit auch Roger Federer mit seinen 12 Millionen.
Wer über den Schweizer Frauenfussball berichtet, ist immer wieder mit Fragen zu Lehmann konfrontiert. Oft schwingt dabei Missgunst mit. Lehmann ist keine perfekte Schwiegertochter so wie Yann Sommer, Marco Odermatt und Roger Federer perfekte Schwiegersöhne sind. Unsere beliebtesten Sportstars ecken nicht an, können sich am Mikrofon gut ausdrücken, sagen aber nur selten Dinge, die wehtun. Sobald in der Schweiz eine Athletin etwas aus der Reihe tanzt, ist sie umstritten. Das spürt auch Lara Gut-Behrami, die schon als junge Skifahrerin einen eigenen Weg ging.
Alisha Lehmann steht anders als etwa Gut-Behrami nicht in erster Linie für sportliche Höchstleistungen, sondern auch für einen gewissen Lifestyle. Für viele Schweizer ist sie zu schrill, zu extrovertiert, zu emanzipiert. Sie ist stark geschminkt, hat Tattoos und inszeniert sich in sozialen Medien auch mal in knappen Outfits. In den Medien werden ihre einstige Beziehung mit Nati-Spielerin Ramona Bachmann genau so thematisiert, wie das aktuelle On-Off mit Aston-Villa-Klubkollege Douglas Luiz.
Sie ist nicht die perfekte Schwiegertochter
Lehmann entspricht definitiv nicht dem Bild eines Schweizer Bünzlis. Sie hat mal eine Liebschaft mit einer Frau, dann mit einem Mann. Sie gibt sich auch mal ungehemmt, lässt die Öffentlichkeit an ihrem Privatleben teilhaben. Egal, um welche Zeit: ihr Make-up ist perfekt und selbst im Fussballspiel sitzt jedes Haar.
Vielleicht ist sie für viele konservative Schweizerinnen und Schweizer auch einfach eine zu moderne und zu globale Frau. Wenn sie Weihnachten feiert, dann macht sie das in Miami. Räkelt sie sich in den Ferien am Strand, tut sie das bei einem Nobelhotel auf den Bahamas. Tritt sie im TV auf, dann ist sie auch mal als Expertin zu sehen oder als eine der prominenten Teamcaptains bei der Baller League, wo ehemalige Profis und Amateurspieler gegeneinander antreten.
Fussball ist Unterhaltung. Das viele Geld im Sport gibt es vor allem deshalb, weil sich Menschen gerne damit beschäftigen. Nicht nur mit dem Fussball selber, sondern auch mit dem Drumherum. In dem Bereich unterscheidet sich der Sport kaum von der Musikbranche. Wer auffallen will, überzeugt nicht nur mit der musikalischen oder sportlichen Performance, sondern interessiert auch daneben. Lehmann hat das verstanden.
Sie inszeniert sich als Gesamtkunstwerk. Ihre Auftritte in der Öffentlichkeit erinnern an einen Popstar und dank den sozialen Medien ist Lehmann zu einer globalen Marke geworden. Dennoch akzeptieren wir bei einem internationalen Popstar eine gewisse Freizügigkeit eher als bei einer Schweizer Fussballerin. Warum stören wir uns bei nackter Haut bei Lehmann, nicht aber bei Miley Cyrus? Warum missfällt uns das Make-up von Lehmann, nicht aber das von Lady Gaga?
Es braucht mehr, als nur ein bisschen mit dem Gesäss zu wackeln
Für Mädchen ist Alisha Lehmann ein Idol. Kinder schauen auf zur 25-jährigen Bernerin. Geht es aber nach einigen Erwachsenen, ist sie kein gutes Vorbild. Dabei schafft es Lehmann gleich doppelt Karriere zu machen. Sie spielt als Fussballprofi in der besten Liga der Welt und ist nebenher noch die erfolgreichste Influencerin. Dahinter steckt viel Arbeit. Nur mit dem Gesäss zu wackeln, wie dies ihre Kritiker monieren, reicht nicht um auf Instagram Follower anzulocken.
Lehmann ist eine gewiefte Geschäftsfrau. Und die sozialen Medien sind auch eine wichtige Einnahmequelle. Noch immer verdienen Fussballerinnen deutlich weniger als Männer. Das ist selbst in der besten Liga der Welt so. Gemäss Schätzungen verdient Alisha Lehmann bei Aston Villa 200’000 Franken pro Jahr. Die Topspielerinnen verdienen zwar rund das Doppelte. Doch das Durchschnittsgehalt in der englischen Women’s Super League beträgt laut Statista nur knapp 54’000 Franken jährlich.
Lehmann dürfte bei Villa nicht nur wegen ihres fussballerischen Könnens besser verdienen als andere, sondern auch, weil sie mit ihrer Aufmerksamkeit in den sozialen Medien als gutes Werbegesicht gilt. Dort vergoldet sie ihr Gehalt zusätzlich. Sie erhält rund 300’000 Franken – pro Post. Sowohl das Leben als Fussballerin als auch jene als Influencerin dürfte für Lehmann endlich sein. Wieso also haben wir ein Problem damit, wenn eine junge Frau Karriere macht – und Geld verdient?
Lehmann ist auf den Fussballplätzen sehr beliebt. Was dabei auffällt: Sie hat verstanden, welchen Umgang Fans schätzen. Egal ob bei einem öffentlichen Training an der WM in Neuseeland oder nach einem Heimspiel des Schweizer Nationalteams: Lehmann ist immer jene Spielerin, die am längsten Autogramme schreibt oder Selfies knipst. Manchmal dauert das eine halbe Stunde, manchmal länger. Sie wirkt dabei nie genervt, lächelt in die Kameras und macht ihren Fans damit eine Freude.
Der Frauenfussball ist auf dem Vormarsch. Das Interesse in den letzten Jahren hat deutlich zugenommen. Durch die Heim-Europameisterschaft im kommenden Jahr erhofft sich der Schweizerische Fussballverband einen weiteren Schub. Wenn im Sommer 2025 die Schweizerinnen gegen die besten Teams Europas spielen, wird sich auch Alisha Lehmann das Trikot des Nationalteams überstreifen. Selbstverständlich wird sie dann zu einem Aushängeschild des Turniers werden – ganz egal, ob sie im Team zu den Leistungsträgerinnen zählt oder nicht.
Schadet oder hilft die Aufmerksamkeit dem Sport?
Ist der Fokus auf Lehmann nun gut für die Entwicklung des Schweizer Frauenfussball oder nicht? Sowohl als auch. Sie sorgt für Aufmerksamkeit für den Frauenfussball. Es kommen Menschen in Berührung mit dem Sport, die sonst kaum Kontaktpunkte zum Frauenfussball hätten. Gleichwohl rückt durch den Fokus auf Lehmann der Sport in den Hintergrund. Fussballerisch gesehen haben es andere Spielerinnen eher verdient, im Scheinwerferlicht zu stehen. Das kann auch zu Neid und Unverständnis führen.
Für Aufregung sorgte Alisha Lehmann vor der EM 2022, als sie im Schweizer Aufgebot fehlte. Danach titelte der Blick: «Lehmann kehrt dem Fussball den Rücken.» Sie selber sprach von einer mentalen Pause, von Müdigkeit.
Die Wahrheit dürfte auch mit der sportlichen Situation zu tun gehabt haben, beim damaligen Nationaltrainer Nils Nielsen hatte die Flügelspielerin einen schweren Stand. Durch das Fehlen Lehmanns an der EM 2022 war die Schweiz sportlich nur marginal geschwächt. Bei einer ähnlich starken Spielerin, die den Sprung in das Kader nicht geschafft hätte, wäre dies in Zeitungen maximal eine Randnotiz gewesen. Lehmann schaffte es auf die Titelseiten.
Kaum war Nielsen weg, war Lehmann wieder im Nationalteam. An der WM letztes Jahr in Neuseeland war sie dabei. Doch in vier Partien wurde sie nur zwei Mal eingewechselt.
Alisha Lehmann ist neben dem Platz ein Superstar. Das korreliert nicht mit ihren sportlichen Leistungen. Bei Aston Villa tingelt sie in der englischen Super League genauso zwischen Ersatzbank und Startelf, wie sie dies auch im Schweizer Nationalteam tut. Und doch ist sie in beiden Teams der grösste Star. Läuft sie sich bei einem Spiel ein, kreischen die Fans von der Tribüne. Sie bewegt mit ihrer Art Menschen und inspiriert diese.
Dafür verdient Alisha Lehmann Respekt. Es gibt Rockstars, die Drogenexzesse verherrlichen. Es gibt Rapper, die Vergewaltigungen glorifizieren. Es gibt Fussballer, die ihre Frauen schlagen. Ob Alisha Lehmann ein gutes Vorbild für die Jugend ist? Ja, natürlich. Wieso denn auch nicht? Sie ist eine eigenständige und auch finanziell unabhängige Frau. Und es ist übrigens voll okay, wenn sich Mädchen für das Training schminken, wenn sie sich so wohl fühlen.
Publiziert am 4. April 2024 in den Zeitungen von CH Media und bei Watson.