Radstar Marc Hirschi spricht im grossen Interview über seine erstaunliche Entwicklung, die Olympischen Spiele und seinen Teamwechsel.
Wir treffen uns im Büro von Fabian Cancellara. An den Wänden hängen nur Bilder des früheren Radstars. Aber die Gegenwart und Zukunft des Schweizer Radsports heisst Marc Hirschi, 22, wie sein Manager Cancellara aus Ittigen. Der WM-Bronzemedaillengewinner und kämpferischster Fahrer sagt: «Ich glaube, meine Bilder werden irgendwann auch noch aufgehängt.»
Wir treffen Sie in Ittigen, aber Sie sind schon wieder auf dem Absprung. Wohin reisen Sie?
Marc Hirschi: Erst am Freitag bin ich aus den Vereinigten Arabischen Emiraten aus dem Trainingslager zurückgekehrt, schon diesen Mittwoch geht es nach Teneriffa. Dort haben wir beste Bedingungen, Bergtrainings zu machen. Das ist derzeit sonst in Europa nicht möglich. Nach dem Trainingslager komme ich für zwei Tage nach Hause zurück, ehe die UAE Tour ansteht – die Tour in der Heimat meines neuen Teams.
Sie haben ihr Team Sunweb verlassen und sind zu UAE Emirates gewechselt. Warum?
Ich darf wegen unserer Vereinbarung nichts sagen. Nur so viel: Ich habe Sunweb nicht im Schlechten verlassen. Sie haben mir durch grossartige Jahre geholfen – dafür bin ich ihnen dankbar.
Bei UAE treffen Sie mit Tadej Pogacar, Mikkel Bjerg und Brandon McNulty auf drei Fahrer, die Sie schon kennen.
Der prominenteste davon ist mit Tadej Pogacar der aktuelle Sieger der Tour de France. Wie ist Ihr Verhältnis zu ihm?
Sehr gut. Bei den Junioren hatten wir hin und wieder Kontakt und haben uns respektiert, doch wir sprachen beide nicht gut Englisch. Inzwischen hat sich das geändert. An der letzten Tour haben wir miteinander jeweils ein wenig geredet auch während des Rennens, wenn es sich ergeben hat. Ich habe mich über seinen Sieg sehr gefreut.
Sie sollen an der Tour de France helfen, Pogacar zur Titelverteidigung zu führen. Wurden Sie nur als Edelhelfer geholt?
Nein, ich sehe mich nicht als Edelhelfer. Die Tour de France ist für mich eine gute Vorbereitung auf die Olympischen Spiele. Unser Team fährt mit einer offenen Taktik. Natürlich werde ich versuchen, Tadej zu helfen, aber ich werde Spielraum erhalten.
Bei den Eintagesklassikern treten Sie als Teamleader an. Sehen Sie dort eher Ihre Stärken als bei den grossen Rundfahrten?
Im Moment passen mir die Eintagesrennen besser. Diese will ich nicht aufgeben. Doch auch bei den Rundfahrten ist Potenzial vorhanden, ich brauche aber ein bisschen mehr Zeit. Da bin ich wohl vergleichbar mit Julian Alaphilippe, der auch ein bisschen Zeit brauchte, um bei den Rundfahrten vorne mitzufahren. Bei mir wird sich es zeigen, ob ich diesen Schritt machen kann.
Ausgerechnet im für viele schwierigen Jahr 2020 hatten Sie Ihre erfolgreichste Saison. Wie blicken Sie darauf zurück?
Für mich war es ein sehr erfolgreiches Jahr. Wegen der Hüftverletzung, die ich Anfang 2020 erlitt, war es für mich sogar gut, dass ich durch die Coronapause zusätzliche Zeit erhalten habe. Natürlich war dann die Saison nicht dasselbe, wie dies in gewöhnlichen Jahren der Fall gewesen wäre. Die Tour de France wäre viel schöner gewesen, wenn Zuschauer dabei gewesen wären. Und auch die Heim-WM hätte dann stattfinden können und wäre sicher ein Fest geworden. Aber dann wäre vielleicht alles ganz anders gekommen.
An der Tour machten Sie unter anderem mit einem Etappensieg auf sich aufmerksam. Wie viel vom Rummel um Ihre Person haben Sie mitgekriegt?
Sehr wenig. Vor Ort war fast niemand, es war wenig los. Das meiste hat in den Medien stattgefunden, aber ich hatte keine Zeit, diese zu verfolgen. Von zu Hause habe ich gehört, dass einiges abgeht, aber davon habe ich selber wenig gemerkt. Für mich war dies sicher nicht schlecht. So konnte ich mich langsam an diesen Rummel gewöhnen. Man darf am Abend nach einer Etappe nicht zu euphorisiert sein, sonst kann man nicht gut schlafen.
Wie gut haben Sie nach Ihrem Etappensieg geschlafen?
Da habe ich schon sehr wenig geschlafen. Aber das war auch nicht so schlimm. Ich habe ja gewusst, dass mein Ziel einzelne Etappen waren. Dadurch konnte ich es lockerer angehen.
An der WM holten Sie die Bronzemedaille im Strassenrennen. Wie blicken Sie darauf zurück?
Es war ein sehr hartes Rennen und ich war schon müde. Trotzdem habe ich am Schluss nochmals angegriffen, dadurch setzten sich Emotionen frei. Vielleicht wäre es besser gewesen, weiter abzuwarten, aber ich habe aus dem Bauch heraus entschieden. Dass ich Bronze holen konnte, war schön.
An der WM haben Sie auch bewiesen, dass Sie als Teamcaptain Erfolge feiern können. Was können Sie aus dieser Erfahrung für ihr Team mitnehmen?
Ich glaube, dass dies eine wichtige und gute Lernerfahrung für mich war. Die Rolle war mit einer gewissen Erwartungshaltung verbunden. Diese Erfahrung gibt mir Vertrauen dafür, dass ich das auch im Team machen kann.
Sie sind auch bekannt dafür, dass Sie einen guten Renninstinkt haben. Woher kommt der?
Ich konnte schon viel Rennerfahrung bei den Junioren sammeln. Zudem fuhr ich Mountainbike, Radquer und Bahn. Gerade auf der Bahn habe ich viel profitieren können. Ich lernte clever zu fahren, was mir heute auf der Strasse enorm viel nützt.
Was hat sich für Sie geändert im Umgang mit anderen Athleten?
Der grosse Unterschied ist, dass man mich nun kennt. Ich glaube nicht, dass mich meine Teamkollegen anders anschauen, aber bei den Rennen wird ein Unterschied da sein. Die Konkurrenz nimmt mich anders wahr.
Sie galten lange als grosses Talent, aber einen so schnellen Aufstieg traute man Ihnen nicht zu. Waren Sie selber überrascht davon?
Ich war schon auch sehr überrascht. 2019 ist es mir nicht nach Wunsch gelaufen, 2020 war ich einfach glücklich, Velo zu fahren. Diesen Effekt konnte ich die gesamte Saison mitnehmen.
Profitierten Sie dabei auch von Manager Fabian Cancellara?
Natürlich. Es ist immer noch etwas anderes, wenn er einen Tipp gibt, der einen solchen Rummel schon erlebt hat. Er konnte mich gut darauf vorbereiten. Es geht darum, die Basis nicht zu verlieren. Man muss sich auf das Essenzielle fokussieren: Viel schlafen, locker bleiben und sich gut ernähren.
Wenn Sie wünschen könnten zwischen dem Regenbogentrikot des Weltmeisters, dem gelben Trikot des Tour-de-France-Siegers oder einer olympischen Medaille: Wofür würden Sie sich entscheiden?
Das Regenbogentrikot des Weltmeisters ist in jedem Jahr zu vergeben und deshalb am ehesten ein Ziel von mir. Die anderen beiden Preise sind eher Träume: Rein sportlich gesehen, wäre das gelbe Trikot das schönste. Eine olympische Medaille ist sehr schwierig zu holen. In diesem Jahr in Tokio wäre sie möglich, 2024 in Paris liegt mir aber die Strecke nicht. Und dann bin ich vielleicht schon zu alt.
Stand jetzt müssen sich die Velofahrer entscheiden: Olympische Spiele oder Tour de France. Wofür entscheiden Sie sich?
Es ist noch so viel offen, darum ist es für mich noch weit entfernt. Ich glaube, dass die Organisatoren eine Lösung finden, weil viele Fahrer davon betroffen sind. Wenn es Änderungen gibt, werden wir es wieder anschauen müssen. Aber mein grosses Ziel sind die Olympischen Spiele.
Marc Hirschi
Er ist der neue Stern am Schweizer Radsporthimmel. Spätestens im Jahr 2020 ist der Stern des Berners aufgegangen: An der Tour de France gewann Marc Hirschi eine Etappe und wurde zum kämpferischsten Fahrer gewählt. Zudem holte er im WM-Strassenrennen Bronze und siegte beim Eintagesrennen Flèche Walonne. Hirschi wurde Ende 2020 vom «Blick» zum «Sportler des Jahres» und vom Verband zum «Radsportler des Jahres» gewählt. Schon im Nachwuchs hatte Hirschi für Furore gesorgt: 2016 wurde er Weltmeister auf der Bahn, 2018 auf der Strasse. Aufgewachsen ist der 22-jährige Marc Hirschi im bernischen Ittigen, wo er immer noch lebt. Aus Ittigen stammt auch Hirschis Manager, der frühere Spitzenfahrer Fabian Cancellara.
Publiziert in der Schweiz am Wochenende: Hier der Link