Béatrice Wertli erklärt im Gespräch, was sie beim Turnverband alles verändern möchte. (Fabio Baranzini/ Aargauer Zeitung)

Turnverbandsdirektorin Béatrice Wertli sagt im grossen Interview: «Erfolg und Ethik? Natürlich geht das!»

Nach Skandalen ist Béatrice Wertli daran, den Schweizerischen Turnverband aus der Krise zu führen. Wie, erklärt sie im grossen Interview.

Mobbing, Psychoterror, Training trotz Verletzungen: Beim Schweizerischen Turnverband dominierten im letzten Jahr Negativschlagzeilen. Nachdem Medienrecherchen aufzeigten, wie schlimm die Situation im nationalen Leistungszentrum in Magglingen war, wurde beim Turnverband das Führungspersonal fast komplett ausgetauscht. Béatrice Wertli ist als Direktorin angetreten, um den grössten Schweizer Sportverband aus der Krise zu führen. Sie empfängt uns in der Villa Zurlinden in Aarau und spricht im Interview Klartext.

Sie haben den Turnverband in der grössten Krise übernommen. Bei Ihrem Amtsantritt sagten Sie, dass es viele Veränderungen brauche. Wie weit ist dieser Prozess schon?

Béatrice Wertli: Es ist ein laufender Prozess, und somit sind wir immer dran. Zuerst haben wir Grundsätze definiert, die wir im Turnverband leben möchten. Erstens: Leistung nur bei entsprechender Gesundheit, zweitens wollen wir hin- und nicht wegschauen, und drittens möchten wir eine offene und transparente Kommunikation leben. Uns ist bewusst, dass die externe Kommunikation bei einem so grossen Verband auch eine interne ist. Deshalb möchten wir von uns aus aktiver sein, als dies früher der Fall war. Allein diese drei Grundsätze haben einiges verändert. Doch damit ist es noch nicht getan.

Seit den Magglingen-Protokollen steht der Turnverband negativ im Scheinwerferlicht. Die Strukturen innerhalb des Verbandes wurden stark kritisiert. Weshalb haben Sie diese Stelle dennoch unbedingt antreten wollen?

Es ist eine enorm sinnstiftende Arbeit. Wir arbeiten für den grössten Sportverband der Schweiz. Stellen Sie sich dies einmal vor: In der Schweiz gibt es mehr Turnvereine als Gemeinden. Und ich habe gespürt, dass der Turnverband ein Umdenken möchte. Für diese Veränderungen habe ich grosse Energie und Motivation. Wovor ich Respekt habe, sind die fehlende Zeit und Ressourcen. Die Änderungen brauchen Zeit. Sie könnten in drei Monaten zu mir kommen und sagen, dass ich jetzt schon ein Jahr im Amt sei und noch wenig verändert habe. Aber ich kann nicht etwas, das man im Spitzensport viele Jahre lang nicht gemacht hat, innerhalb eines Jahres aufholen. Ich spüre aber, dass diese Erwartungshaltung da ist.

In Magglingen kam es zu vielen unschönen Szenen, die zuletzt unter anderem durch eine Untersuchung des Bundes bestätigt wurden. Wie möchten Sie solche Verfehlungen künftig verhindern?

Es gibt mehrere Eckpfeiler, wie wir ähnliche Vorkommnisse künftig vermeiden möchten. Derzeit arbeiten wir zum Beispiel daran, all unsere Sportförderkonzepte zu überarbeiten und zu schauen, ob auch überall unsere neuen Prinzipien gelebt werden. Dazu kommt, dass wir die Kontrolle wie auch die Unterstützung gegenüber den Regionen innerhalb des Verbandes verbessern müssen. Swiss Olympic will uns künftig besser auf die Finger schauen, wir möchten das genau Gleiche mit den regionalen Leistungszentren ebenfalls.

Dazu gehört auch, dass wir die Ausbildung nach unten verbessern möchten. Denn das Thema Ethik betrifft nicht nur den Spitzensport und die Elite, sondern mindestens so fest den Nachwuchs. Wir bilden in 15 Sportarten Trainerinnen und Trainer aus, vom Indiaca, Gymnastik und Turnen zu Rhönrad bis Kunstturnen. Unser Augenmerk müssen wir darauf richten, dass wir das Bewusstsein aller Beteiligten schärfen. Das gilt für Trainerinnen und Trainer, wie auch für Athletinnen und Athleten und deren Umfeld. Alle sollen erkennen, wann die Grenze überschritten ist.

Können damit solche Verfehlungen ganz verhindert werden?

Nein, ganz verhindert werden können wir solche Verfehlungen wohl nie. Denn als so grosser Verband sind wir das Abbild der Gesellschaft. Was wir erreichen können ist aber, dass wir das System so verändern, dass die Drucksituationen für Trainerinnen und Trainer und damit auch für die Athletinnen und Athleten gerade im Leistungssport nicht so gross sind. Wir möchten dank guter und schlechter Beispiele aufzeigen, wie wir miteinander umgehen möchten. Das beinhaltet, dass wir Verstösse gegen unsere Werte und Prinzipien entsprechend bestrafen möchten. Gute Beispiele möchten wir loben.

Sie sind Direktorin des grössten Sportverbandes, der Grossteil der Mitglieder ist im Breitensport aktiv. Ist dieser Spagat schwierig?

Genau das ist es, was unsere Aufgabe so spannend macht. Die Menschen an der Basis in ihren Turnvereinen sind für uns das Wichtigste. Wir wollen dort das Fundament stärken und erst, wenn dieses stimmt, von dort nach oben bauen. Wichtig ist, dass es allen gut geht und der Umgang stimmt. Nur wenn es in der Basis stimmt, können wir auch schliesslich im Spitzensport den Kulturwandel vorantreiben, den wir alle möchten.

Beim STV hat man jahrelang immer weggeschaut. Was stimmt Sie positiv, dass dies nun anders wird?

Überall im Verband treffe ich auf offene Arme für einen Kulturwandel. Der neue Leistungssportchef David Huser und ich sind angetreten, weil wir gespürt haben, dass alle im Verband solche Veränderungen anstreben. Das ist entscheidend, damit sich dies auch wirklich nachhaltig ändern kann.

Der Turnverband möchte also sein «krankes» System anpassen: Statt der harten Hand soll es nun fairer werden. Sportlich könnte die Schweiz damit aber auch den ­Anschluss verlieren.

Sehen Sie: Erst kürzlich konnten wir vier hervorragende Sportlerinnen und Sportler verabschieden. Oliver Hegi, Pablo Brägger, Giulia Steingruber und Ilaria Käslin. Sie haben erfolgreiche Karrieren hinter sich und sind immer noch fit und gesund. Das ist es, was wir möchten. Bei den Männern hatten wir diese Probleme nicht und sind die Nummer sechs der Welt. Wir konkurrieren mit Ländern wie China, Russland oder Japan. Das zeigt, dass es möglich ist.

Sie führen Steingruber als Positivbeispiel an, obwohl Sie ihren Trainer Fabien Martin entlassen mussten, weil auch gegen ihn Vorwürfe laut wurden. Damit ging auch ein Toptrainer. Darum nochmals: Könnte die Schweiz sportlich den Anschluss verlieren?

Wir erlauben uns, eine langfristige Perspektive zu haben und etwas aufbauen zu können. Erfolg und Ethik gehen zusammen – davon sind wir fest überzeugt. Wir glauben sogar, dass wir dadurch noch erfolgreicher werden können. Wer körperlich und mental bei bester Gesundheit ist, kann die optimale Leistung noch besser abrufen.

In Ländern wie Weissrussland, China oder Bulgarien sind die Trainingsmethoden im Spitzenturnen kaum besser, doch diskutiert wird dies dort nicht. Denken Sie, dass es sich auch um ein Wohlstandsproblem handelt?

Auf jeden Fall bestehen grosse Unterschiede. Am Kongress des Weltturnverbandes wurde aufgezeigt, dass bei der internationalen Ethik-Stelle des Verbands fast nur aus Westeuropa Meldungen zu Ethikverstössen eingegangen sind. Da müsste man sich ja eigentlich fragen, was zum Beispiel in Osteuropa los ist, dass Verstösse nicht einmal gemeldet werden. Doch es wäre der falsche Schluss zu sagen, dass wir in der Schweiz das Thema lassen sollten, weil wir international wenig bewirken können. Stattdessen kann es unsere Rolle sein, zu einem Vorbild zu werden.

Wie kann sich die Schweiz hierbei einbringen?

Wenn eine Athletin ihr Kleid wieder geraderückt, nachdem es sich verschoben hat, gibt es Punktabzug. Ist das sinnvoll? Stand jetzt müssen wir uns aber leider bei unseren Wettkämpfen danach richten. Um dies zu ändern, werden wir uns international einbringen. Dennoch: Unsere Priorität liegt national. Es gibt noch viel zu tun.

Zur Person
Béatrice Wertli (45) ist seit Anfang Jahr Direktorin des Schweizerischen Turnverbandes. Damit folgte die Aargauerin auf den ehemaligen Geschäftsführer Ruedi Hediger, der nach der Berichterstattung rund um die «Magglingen-Protokolle» zurückgetreten ist. Mit Wertli verpflichtet der STV eine Polit-Expertin. Von 2001 bis 2005 war sie Kommunikationschefin und von 2012 bis 2018 Generalsekretärin der CVP Schweiz. Zudem gehörte sie von 2009 bis 2013 dem Berner Stadtrat an. Dazwischen arbeitete sie in verschiedenen Führungsfunktionen bei der Post und im Bundesamt für Sport. Danach arbeitete sie für eine Kommunikationsagentur. Wertli ist mit dem Preisüberwacher Stefan Meierhans verheiratet. Das Paar hat zwei Töchter und lebt in Bern.

 

Publiziert in den Tageszeitungen von CH Media: Hier ist der Link