Am «Athletes Day» spricht Ariella Kaeslin über Schwierigkeiten nach ihrem Rücktritt. Bild: David Sutter (Bern, 5. Oktober 2020

Wie sich Spitzensportler mit der zweiten Karriere schwer tun – und wie ein Startup helfen möchte

Nach der Karriere ist vor der Karriere. Viele Spitzensportler haben Schwierigkeiten mit dem Wechsel in die Arbeitswelt. Ein Netzwerk will dies ändern.

In der Aargauer Zeitung, Luzerner Zeitung und St. Galler Tablatt vom 7. Oktober 2020.

 

Jahrelang steht Ariella Kaeslin im Mittelpunkt. Dreimal wird sie Sportlerin des Jahres, sie holt regelmässig Medaillen an Welt- und Europameisterschaften. Dann beendet sie 2011 mit 23 Jahren ihre Sportlerkarriere.

«Und was mache ich jetzt?», fragt sie sich.

Plötzlich ist es vorbei mit vorgeschriebenen Trainings- oder Ernährungsplänen, mit durchgeplantem Programm und einem Management, das alles übernimmt. «Alle sagen dir immer: Konzentriere dich nur auf den Sport. Und dann trittst du zurück und stehst allein da. Ich musste vieles neu lernen. Ich wusste nicht einmal, wie man Rechnungen bezahlt, weil das Management dies jeweils übernommen hat», erzählt Kaeslin.

Kaeslin ist ein Beispiel von vielen Spitzensportlern, die sich nach der Karriere die Sinnfrage stellen. Am Athletes Day, der am Montag im Kursaal Bern über die Bühne ging, dreht sich alles um dieses Thema. Kaeslin diskutiert dabei in einem Talk mit Fussballer Davide Callà, später stehen Ski-Ass Tina Weirather oder Ex-FCB-Präsident Bernhard Heusler auf der Bühne.

Die Veranstaltung ist der Startschuss für das Start-up Athletes Network, gegründet vom ehemaligen Fussballer Benjamin Huggel, dem Eishockeyaner Severin Blindenbacher, Skifahrer Niels Hintermann und HR-Experte David Heiniger. Gemeinsam haben sie das Ziel, Spitzensportler beim Übergang in die Arbeitswelt zu unterstützen. «Viele Sportler setzen sich zu lange nicht mit der Karriere nach der Karriere auseinander. Wir möchten sie für diese Frage sensibilisieren und aufzeigen, was es überhaupt alles gibt», sagt Huggel. «Denn die zweite Karriere ist doppelt so lang wie die erste.»

Die Zeit als Sportler ist nach 30 meist vorbei, dann stellt sich die Identitätsfrage. Huggel weiss, wovon er spricht. Als er sich nach vielen Jahren als Fussballprofi nach Stellen umschaut, heisst es wiederholt, ihm fehle es an Arbeitserfahrung. Der Weg in die Berufswelt ist schwierig. Jahrelang hat er sich als Sportler definiert, plötzlich fällt diese Identität weg. Auch Ariella Kaeslin hat dies so erlebt: «Ich war immer stolz darauf, sagen zu können, dass ich Spitzensportlerin bin. Aber plötzlich wurde die Frage nach meinem Beruf eine schwierige.»

Athletes Network möchte da helfen, in dem es Berufsberatungen anbietet oder Stellen vermittelt. Finanziert werden soll das Start-up durch Stiftungen, Mäzene oder Wirtschaftsunternehmen. Einige Firmen aus der Privatwirtschaft konnten schon gefunden werden. Zudem sind die Vereine SC Bern, EV Zug, die ZSC Lions und die Kadetten Schaffhausen eine Partnerschaft eingegangen.

Für die Firmen soll sich die Arbeitskraft lohnen, sind Huggel und Co. überzeugt. «Spitzensportler bringen auch in die Arbeitswelt etwas mit, was nicht viele haben», sagt Huggel. Niels Hintermann ergänzt: «Sportler wissen, was es heisst, zusätzliche Kilometer abzuspulen und vollen Einsatz zu geben.»

Über 70 aktive und ehemalige Sportler sind bereits Teil des Netzwerks. Mitglieder dürfen aktive und ehemalige aller Sportarten werden. Dies gilt als einer der grossen Unterschiede des bereits bestehenden Athlete Career Programme von Swiss Olympic, das nur Akteuren aus olympischen Disziplinen offensteht – und dies nur bis zwei Jahre nach der Aktivkarriere. «Ich habe nie von diesem Angebot von Swiss Olympic profitiert, hätte es aber gebraucht», sagt Huggel. Das Netzwerk steht auch jungen und aktiven Athleten offen. Ganz nach dem Motto: Es ist nie zu früh, sich Gedanken über die Zukunft zu machen. Ideal verkörpert diese Einstellung Niels Hintermann. Das 25-jährige Gründungsmitglied weiss: Irgendeinmal ist die Skikarriere vorbei. Dann wird das Rampenlicht abgestellt, und der Ernst des Lebens beginnt.

Ariella Kaeslin ist da schon ein bisschen weiter. Inzwischen hat sie den Bachelor in Psychologie und Sportwissenschaft in der Tasche, sie lässt sich zur Physiotherapeutin ausbilden. «Ich bin zwar noch nicht so weit wie andere in meinem Alter, aber langsam bin ich in der Karriere nach dem Spitzensport angekommen.»

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