Meine MAZ-Diplomarbeit.
Der Adligenswiler Stephan Lichtsteiner (32) ist Leader, Reizfigur, Kämpfer. Seine Geschichte zeigt, was es nicht nur auf, sondern auch neben dem Platz braucht, um es ganz nach oben zu schaffen.
Bei diesem Artikel handelt es sich um meine Diplomarbeit. Die Multimedia-Story finden Sie hier.
Nachfolgend kommt der Original-Text, wie er am 3. Januar 2017 in der Luzerner Zeitung publiziert wurde.
Flankenball, Kopfball, Tor. 2:0 gegen die Färöer-Inseln in Luzern und das letzte Schweizer Länderspieltor 2016. Die Reaktion der Journalisten ist sinnbildlich für die Karriere des Torschützen. Sie fragen, ob es speziell sei, als Verteidiger ein Länderspieltor zu schiessen. «Nein. Ich habe in Länderspielen die bessere Torquote als zum Beispiel Philipp Lahm.» – «Aber in einer solchen Goalgetter-Manier machst du die Tore schon selten, oder?» – «Nein, eigentlich nicht.»
Die schlagfertigen und selbstbewussten Antworten stammen von Stephan Lichtsteiner. Schütze des besagten Kopfballtors in der WM-Qualifikation und einer der erfolgreichsten Schweizer Fussballer aller Zeiten: fünffacher italienischer Meister mit Juventus Turin, dreifacher italienischer Cupsieger, dreifacher italienischer Superpokalsieger, Champions-League-Finalist 2015.
Wer Stephan Lichtsteiner kritische Fragen stellt, muss mit selbstbewussten, teils provokanten Antworten rechnen. Er kann eben nicht nur auf dem Feld giftig sein. Darum war der Reporter vor dem ersten Treffen auf der Terrasse des Panoramahotels Feusisberg ein wenig nervös. Lichtsteiner macht aber einen freundlichen und entspannten Eindruck, wie er so in der Sonne sitzt. Zumindest so entspannt, wie man es von ihm erwarten kann. Sein Gesichtsausdruck bleibt ernst, ist aber nicht verkrampft. Er wirkt konzentriert und überlegt sich jede Aussage ganz genau, bevor er sie ausspricht. Einen Tag zuvor hat ihn sein Vereinstrainer Massimiliano Allegri nicht ins Kader für die Champions-League-Vorrunde berufen. Das Interview darf nur stattfinden, wenn dazu keine Fragen gestellt werden. Doch im Laufe des Gesprächs kommt Lichtsteiner selber auf das Thema, dass er zum Saisonstart den Stammplatz an den von Barcelona geholten Dani Alves verloren hat. «Wenn ein Club einen Spieler wie Dani Alves verpflichten muss, damit ich nicht mehr Stammspieler bin, ist es ein grosses Kompliment. Doch ich habe meinen Platz bei Juventus immer behalten und werde ihn jetzt nicht hergeben», sagt er mit einer solchen Überzeugung, dass man es ihm glauben muss.
Lichtsteiner, der Impulsive
Das Gespräch startet mit einer Unterhaltung über die Juniorenzeit. Der Reporter erinnert sich, wie er den 18-jährigen Stephan Lichtsteiner zum ersten Mal Fussball spielen sah, als dieser noch bei den GC-Junioren war. Damals hat er vor allem durch seine aufbrausende Art auf sich aufmerksam gemacht. Fehlentscheide kommentieren, Gegner provozieren. Das kam bei seiner ersten Station im Profifussball nicht immer gut an. In der U-21 gab es mit Trainer Carlos Bernegger Reibereien – zu ähnlich waren sich die beiden Hitzköpfe. Bernegger will sich nicht dazu äussern. Lichtsteiner selber sagt: «So schlimm war das nicht. Neben dem Platz gab es keine Probleme, auf dem Platz manchmal Meinungsverschiedenheiten, weil wir verschiedene Erfolgsrezepte hatten.» Auch als Lichtsteiner dann in der 1. Mannschaft spielte, gab es unterschiedliche Ansichten – diesmal zwischen ihm und den bestandenen Mitspielern. Diese waren Nationalspieler, Routiniers, Stars. Der Junge aus Luzern redete mit ihnen, als wäre er selber seit Jahren Profi. In einer Zeit, in der die Jungen still sein sollten, kam das nicht gut an. Er empfand es als unfair, wenn ein Spieler im Training oder im Match nicht 100 Prozent gab. «Sicher wäre es einfacher gewesen, mit dem Strom zu schwimmen und ruhig zu sein. Aber ich erwarte auch von meinen Teamkollegen, dass sie alles für den Erfolg machen.»
Um mit seiner aufbrausenden Art besser umgehen zu können, ging er früh zum Mentaltraining – aus eigenem Antrieb. Er wollte lernen, sich auf dem Platz besser zu kontrollieren. «Ohne Mentaltraining hätte ich es nicht so weit gebracht», ist er überzeugt. Er habe gelernt, an die Grenze des Erlaubten zu gehen, aber nicht darüber hinaus. Karten sammelt er nur selten. Aber auch heute ist es noch so: Wenn der Captain der Schweizer Nationalmannschaft während einer Partie im Fernsehen eingeblendet wird, ist er häufig in eine Diskussion verwickelt. Etwas, was ihn in der Öffentlichkeit unsympathisch erscheinen lässt. Aber etwas, was Lichtsteiner braucht, um seine beste Leistung abzurufen. Er selber findet: «Manchmal muss man auch mit Worten ein Zeichen setzen. Damit kann man Mitspieler und sich selber aufrütteln, das Beste aus sich herauszuholen.»
Lichtsteiner, der Überzeugte
In der GC-Meistermannschaft von 2003 spielte Lichtsteiner mit Ricardo Cabanas, Baykal Kulaksızoğlu oder Kim Jaggy – alles grosse Talente. Keiner von ihnen hat die teils riesigen Erwartungen ganz erfüllen können. Der Gelfinger Kim Jaggy, der schon bei den FCL-Junioren mit Lichtsteiner zusammenspielte, erinnert sich: «Es gab anfangs einige, die sich fragten, wie es Stephan zu GC schaffen konnte. Er war für dieses Niveau nur wenig talentiert.» Doch: «Er hat schon früh begriffen, dass die Dinge neben dem Platz, wie Ernährung und Einstellung, genau so wichtig sind wie das Talent», so Jaggy. Wenn die Teammitglieder etwas unternahmen, war Lichtsteiner nie dabei. Nicht, weil er nicht willkommen gewesen wäre, sondern weil er es nicht wollte. Ausgang, Alkohol, Fast Food.
Zweifel an seinen Fähigkeiten hatte Lichtsteiner nie. «Ich wusste, dass ich ein Talent habe, das nur selten vorkommt. Und ich wusste, dass ich es weit bringen werde.» Lichtsteiner lobt sich oft selbst, was arrogant wirken kann. Doch genau die Eigenschaft, von den eigenen Qualitäten überzeugt zu sein, zeichnet ihn aus und hat ihm zu seinen Erfolgen verholfen. Erfolge, die vielleicht seine Umwelt überraschen, aber nicht ihn selber.
Lichtsteiner, der Familienmensch
Noch stolzer als auf seine Erfolge ist er auf seine Familie. Der Zusammenhalt sei aussergewöhnlich, sagt er. Das liegt auch an einem Schicksalsschlag: Als er 14 Jahre alt war, erlitt Mutter Romi einen Schlaganfall. Ein Jahr lang lag sie im Spital. Ob sie überleben würde, war ungewiss. Die Erkrankung seiner Mutter habe Lichtsteiner Kraft gegeben. «Man wird sich noch stärker bewusst, dass es nichts Wichtigeres als Gesundheit und Familie gibt. Und wie sie mit dieser Situation umgeht, beeindruckt mich. Sie ist eine Kämpferin und mein grosses Vorbild.» Der Zusammenhalt bei den Lichtsteiners ist bis heute aussergewöhnlich: So ist etwa Bruder Marco Lichtsteiner sein Berater. Mit Frau Manuela, Tochter Kim Noemi (5) und Sohn Noe Fabio (2) hat Stephan Lichtsteiner inzwischen seine eigene, kleine Familie. «Natürlich verändert einen das Vatersein. Heute beschäftige ich mich mit Fragen, wie zum Beispiel, ob meine Tochter beim Kickboardfahren einen Helm aufhat», erzählt Lichtsteiner. Hat das Einfluss auf seinen Beruf? «Klar, dadurch betrachtet man Siege und Niederlagen anders.»
Lichtsteiner, der Junior
Auch zum Fussball gekommen ist er durch seine Familie. Sein Vater Reto Lichtsteiner, Gründer des FC Adligenswil, war bei den F-Junioren Trainer von Stephans Bruder Marco. So kam es, dass Stephan bereits als Fünfjähriger mittrainieren durfte. «Dass er talentierter war als die anderen Junioren, hat man rasch gesehen», sagt der Vater. Obwohl die Familie fussballbegeistert ist, hat sie ihn nie dazu gedrängt, Fussballprofi zu werden. Er selbst wollte es schaffen. Deshalb wechselte er als 12-Jähriger zum FC Luzern. Heinz Fellmann, der 24 Jahre lang Trainer im FCL-Nachwuchs war, ist auf den Junior aufmerksam geworden. «Er war zwar noch sehr klein und schmächtig, war aber beidfüssig und läuferisch stark», erinnert sich Fellmann. «Und schon von Beginn an merkte man, wie ehrgeizig er ist.» Als die Mannschaft das Stadion von Bayer Leverkusen besichtigte, sagte er zu Trainer Fellmann: «In so einem Stadion werde ich auch mal spielen.» Heute sind die Stadien, in denen Lichtsteiner aufläuft, noch grösser.
Zusammen mit den späteren FCL-Profis Ronny Hodel, Christophe Lambert und Davide Andreoli holte sich das Team den C-Junioren-Meistertitel. Dass Lichtsteiner nie für die 1. Mannschaft des FCL auflief, lag am Interesse der Grasshoppers. Sie warben um Lichtsteiner mit einem schlagkräftigen Argument: eine KV-Lehre bei der Credit Suisse neben dem Fussball. «Das ideale Paket, das es so beim FC Luzern noch nicht gab», sagt Vater Reto. Der FCL war über den Wechsel so verärgert, dass Lichtsteiner ein halbes Jahr weder mittrainieren noch spielen durfte. Überbrückt hat er das, indem er bei der ersten Mannschaft des FC Adligenswil und beim SC Kriens trainierte.
Lichtsteiner, der Auslandprofi
Lichtsteiner zu treffen, ist gar nicht so einfach. In Turin gibt es mit dem Juve-Spieler maximal 20 Minuten Redezeit. «Diese Reise lohnt sich nicht für dich», sagt er bei unserem ersten Treffen direkt. Deshalb bleiben einzig die Zusammenzüge der Nationalmannschaft. Nach dem Sieg gegen Europameister Portugal (2:0) läuft Lichtsteiner an allen Betreuern und Medienschaffenden vorbei – ehe ihn der Reporter doch noch abfangen kann. Mit der entspannten Atmosphäre wie in Feusisberg hat das Gespräch aber wenig gemein. Lichtsteiner denkt immer noch an Spielszenen. Wie etwa an jene, bei der Admir Mehmedi gefoult worden war, Lichtsteiner haderte mit dem Schiedsrichter. «Manchmal gibt es Meinungsverschiedenheiten», sagt er. Seine Auswechslung sei eine Vorsichtsmassnahme gewesen. Für 90 Minuten reiche die Energie Anfang Saison noch nicht. Dann startet der Nati-Car seinen Motor, Lichtsteiner muss los, das Gespräch ist vorbei.
Es geht zurück zum Verein, wo er seit fünf Jahren Leistungsträger ist. Einer, der respektiert wird. Das macht ihn sichtlich stolz, wie bei der ersten Begegnung offensichtlich wird. «Wenn man als junger Schweizer ins Ausland geht, muss man sich den Respekt verdienen.» Als er mit 21 Jahren nach Lille wechselte, war er der «Petit Suisse». «Dort hat niemand auf mich gewartet. Sie schauen dich an und denken: Wer bist du? Was willst du hier? Ein Schweizer-Meister-Titel zählt nichts.»
In Lille traf er auf Daniel Gygax, der vom FC Zürich gekommen war. Gygax erinnert sich: «Dass sich Stephan einen Stammplatz erkämpfen konnte, hat vor allem an seinem grossen Willen gelegen.» Im Trainingslager teilten sich die beiden Schweizer ein Zimmer. Während Gygax mit der Playstation beschäftigt war, machte Lichtsteiner Liegestützen.
Durch seine konstant guten Leistungen in Frankreich rückte der U-21-Nationalspieler auch in den Fokus von Nationaltrainer Köbi Kuhn. Nach der Weltmeisterschaft 2006 debütierte er für die Nationalmannschaft. Dort erkämpfte er sich schnell einen Stammplatz, den er bis heute nicht hergegeben hat. 88 Länderspiele absolvierte Lichtsteiner seither.
Lichtsteiner, der Karriereplaner
Um es so weit zu bringen, braucht es natürlich auch Glück. Glück, eine Position zu haben, auf der die Konkurrenz kleiner ist. Glück, eine Familie zu haben, auf die immer Verlass ist. Glück, nie lange verletzt gewesen zu sein. Zwar musste er sich im Herbst 2015 einer Herzoperation unterziehen, kam aber noch stärker zurück als zuvor. Viel verdankt Lichtsteiner auch seiner Karriereplanung, die vom Schweizerischen Fussballverband als Musterbeispiel präsentiert wird. Konkret: sich bei einem Spitzenklub in der Schweiz durchsetzen, zu einem kleineren ausländischen Verein wechseln. Schritt für Schritt an die Weltspitze.
Von Lille führte der Weg nach Rom zu Lazio. In seinem ersten Heimderby gegen die AS Roma erzielte er sogleich ein Tor. Eine Erfahrung fürs Leben: «Was dort im Vorfeld eines Derbys abgeht, kann man sich kaum vorstellen. Wer das übersteht, kann mit Druck umgehen.» Er lacht. Es ist der einzige kurze Lacher in drei Begegnungen. Lachen tut er im Interview nur selten – und während eines Spiels nie. «Auf dem Platz soll man alles für den Erfolg machen», findet er. «Und wenn wir Erfolg haben, gibt mir das eine innere Zufriedenheit.»
Grund zur Zufriedenheit hat er genügend. Nach seinem Wechsel zu Juventus Turin startete die «alte Dame» durch. Lichtsteiner gewann mit Juventus fünf Mal in Folge den italienischen Meistertitel – Rekord. Und auch in diesem Jahr dürfte der Weg zum Titel nur über Juventus führen. Nach einer schwerwiegenden Verletzung von Konkurrent Dani Alves spielt «Forrest Gump», wie er aufgrund seiner Laufleistung von Fans genannt wird, wieder regelmässig.
Lichtsteiner, der Ambitionierte
Lichtsteiners Ehrgeiz ist ungebrochen. Das zeigt auch die Tatsache, dass er erstmals in seiner Karriere an seiner Schnellkraft feilt. «Mit 25 hat man die Geschwindigkeit, aber jetzt muss ich dranbleiben, um mit den Jungen auf diesem Niveau mithalten zu können», sagt Lichtsteiner. Nicht ohne Stolz fügt er an: «Denn Juventus ist ein absoluter Topklub.»
Dass er mit fast 33 Jahren bei diesem Topklub spielt, macht ihn sichtlich stolz. Ziele hat er noch immer. Eine gute Weltmeisterschaft in Russland 2018 etwa. Und vor allem so viele Titel wie möglich sammeln. «Dafür spiele ich Fussball», sagt er. Deshalb schliesst er eine Rückkehr zum FC Luzern oder den Grasshoppers kategorisch aus. Noch mindestens drei Jahre möchte er auf höchstem Niveau spielen. Später will Lichtsteiner in der Schweiz die Trainerausbildung absolvieren. Wetten, dass er sich nicht damit begnügen wird, den FC Adligenswil zu trainieren?