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Nichts, einfach Nichts: Ein Wochenende ohne Sport

Dieser Text wurde am 16. März 2020 im Print der CH-Media Zeitungen, darunter der Luzerner Zeitung, der Aargauer Zeitung oder dem St. Galler Tagblatt – und insbesondere auch aufbereitet in den Onlineportalen. Hier gehts zum Link.

Die Sonne schien, die Stadien blieben verwaist: Ein Wochenende ohne Sport liegt hinter uns. Und das ist erst der Anfang. Ein Essay.

Die ganze Sportwelt steht still. Die Stadien sind unbenutzt, die präparierten Skipisten bleiben leer. Der Corona-Virus hat den Sport so getroffen, wie ein Boxer seinen Widersacher. Unerwartet und hart. Ein K.o.-Schlag.

Und wir, die Sportfans und Journalisten, die jedes Wochenende dem Sport widmen, können es nicht glauben. Die Situation fühlt sich unwirklich und surreal an. Während wir möglichst in den eigenen vier Wänden bleiben sollen, passiert in der Sportwelt historisches. Aber für einmal geht es nicht um Sieg oder Niederlage. Sondern um gar nichts. Nie seit es den professionellen Sport gibt, passierte weniger als am vergangenen Wochenende. Und das traurige daran: Es passierte dennoch mehr als dies in den nächsten Wochen der Fall sein wird.

Der Spitzensport ist robust. Von der Wirtschaftskrise 2008 war er ebenso wenig betroffen wie von den meisten politischen Ereignissen. Aber dieser Pandemie muss sich selbst der Sport beugen.

Die wichtigste Nebensache verkommt zu dem, was sie ist: eine Nebensache.

Es geht derzeit um weit grössere Themen als darum, ob Partien, Rennen oder Wettkä

Am Samstag flimmert zum bisher letzten Mal Live-Sport über den Bildschirm. Biathlon im finnischen Kontiolahti. Die letzten Heldengeschichten werden geschrieben. Die Bündnerin Selina Gasparin fährt als zweite aufs Podest. Und der Franzose Martin Fourcade holt sich im letzten Weltcup-Rennen seiner Karriere den Sieg und die kleine Kristallkugel, den Gesamtweltcupsieg verpasste er nur gerade um zwei Punkte. Tränen, Umarmungen, Jubel. Es sind aber weniger emotionale Bilder, als wir sie aus dem Sport kennen. Selbst bei dieser Übertragung ist das Corona-Virus omnipräsent. Die Stimmung ohne Publikum ist trist und die Athleten aus Kanada und Österreich sind bereits abgereist.

Die Stimmung ist aber noch nicht überall so. In der fünften englischen Fussball-Profiliga, der National League, finden noch Partien statt – mit bis zu 5000 Zuschauer. Und in Australien remisiert Pirmin Schwegler mit seinem Western Sydney Wanderers gegen Melbourne City, in der Türkei sitzt Ex-Naticaptain Göhkan Inler bei Basaksehir auf der Bank und schaut seinen Kollegen bei einem 1:1 gegen Trabzonspor zu. Auch in Mexiko, Südamerika oder Afrika gingen noch Partien über die Bühnen – zum Grossteil vor vollen Tribünen. Wer also exotische Fussballspiele verfolgen möchte, hat nun Zeit dazu – bis auch jene Ligen pausieren müssen.

In Westeuropa ist aber alles stillgelegt. Nur in einigen sozialen Netzwerken ist es ein bisschen wie immer. Zum Beispiel beim deutschen Drittligisten MSV Duisburg. Der offizielle Account des Vereins twittert am Samstag um 14 Uhr: «Los geht‘s. Tolle Stimmung an der Grünwalder. Es scheint, als wäre bei diesem Spitzenspiel kein Platz mehr frei.» Darauf tickert er eine fiktive Partie, die mit 5:4 des MSV gegen 1860 München spektakulär endet.

mpfe stattfinden. Es geht um Gesundheit, um Zusammenhalt. Es geht darum, die wohl grösste weltweite Krise der neueren Geschichte zu überstehen. So verständlich deshalb abgesagte Anlässe sind, ein Wochenende ohne Sport schmerzt. Das sonntägliche Wetter hätte nicht besser sein können für einen Stadionbesuch oder zumindest für den Regionalfussball. Doch der schnelllebige Sport muss plötzlich unerwartet schnell entschleunigen. Die Situation fühlt sich so an, wie es für einen gesperrten Spieler in Topform sein muss: mental und körperlich ist er bereit, aber er darf nicht mittun.

Für alle, für die der Sport eine wichtige Rolle einnimmt, ist es eine Situation, wie man sie sich nie vorstellen konnte. Als ich einst als Sportjournalist begann, meinte ein Freund zu mir: «Leute, die über Sport schreiben, braucht es immer.» Und recht hatte er. Für uns Sportjournalisten gibt es stets viel zu tun. Wir kennen kein Sommerloch und selbst die Winterpause in den Sommersportarten ist durch den Wintersport bestens abgedeckt. Irgendwas passiert immer. Bis jetzt.

Schalke folgt diesem Beispiel und begleitet das eigentlich angesetzte Derby gegen Dortmund auf Twitter – und schliesst mit den Worten: «Was für ein Spiel! Dieses Spiel geht in die Geschichtsbücher ein!» In mehreren Bilder zeigen sich Schalker Jubelszenen nach einem legendären 4:4 nach einem 0:4-Rückstand. Die Bilder stammen vom 25. November 2017.

Es sind Bilder, die vor ein paar Tagen noch alltäglich waren, nun aber wie aus einer anderen Zeit wirken. Fussballer liegen sich in den Armen, ganz ohne nötigen Abstand. Fans stehen im Stadion nahe beieinander und umarmen jeden – ganz egal, ob er ein paar Minuten zuvor noch hustete. Es sind Bilder, von denen alle hoffen und erwarten, dass wir sie hier bald wieder erleben dürfen. Doch ob dem so ist, das weiss derzeit niemand. Wie lange wird uns das Corona-Virus beschäftigen? Und welche Folgen hat das für den Sport? Wird der Spitzensport nach dieser Krise noch ähnlich sein wie zuvor?

Auch das Fernsehen passt sich den Ereignissen an. In den üblichen Formaten gibt es statt Matchberichten Diskussionen, in denen Sportfunktionäre plötzlich zu Pandemie-Experten mutieren. Doch häufig äussern sie sich fernab jeglicher Realität. Sie scheinen sich der Tragweite der Corona-Krise noch nicht bewusst. Im Sportpanorama glaubt René Fasel, der Präsident der Internationalen Eishockey-Föderation, offiziell immer noch daran, dass die Eishockey-WM stattfinden kann. Und in Deutschland diskutieren die Experten in der Sportschau, dem aktuelle Sportstudio oder dem Doppelpass darüber, ob am 4. April wieder Fussball gespielt wird – und wie sich die Spieler nun fithalten können. Ausgerechnet Bayerns Ehrenpräsident Uli Hoeness, der sonst moralisch kritisiert wird, bringt es schliesslich auf den Punkt: «Es gibt viel wichtigeres als der Sport. Wir müssen einfach mal geduldig sein.»

Es sind wahre Worte. Bis sich die Situation erholt hat, wird es dauern. Das vergangene Wochenende ist erst der Anfang einer längeren Sportpause, wie sie es zuletzt während des zweiten Weltkriegs gegeben hat. Ob wir wollen oder nicht. Wir alle, Fans, Athleten, Journalisten und alle anderen, denen der Sport am Herzen liegt, müssen sich nun mit dieser Tatsache anfreunden. Doch genau in dieser Zeit müssen wir in Erinnerung rufen, worum es beim Sport geht. Es geht um Emotionen, um Begeisterung, um Freude. Wenn wir diese Krise überstanden haben und es irgendwann wieder um Sieg oder Niederlage geht, können wir es umso mehr geniessen.

Wenn plötzlich Schlümpfe am Strassenrand stehen

Nicole Reist, 35, ist vierfache Weltmeisterin im Ultra Cycling. Für den Sport opfert sie ihren Schlaf und viel Geld. Warum tut sie das?

Das Rennen dauert 42 Stunden und 10 Minuten. Es führt über 1000 Kilometer und 17000 Höhenmeter. «Für mich ist das eine kurze Distanz», sagt Nicole Reist und lacht. In Graz ist sie soeben Weltmeisterin im Ultra Cycling geworden. Zum vierten Mal. Nur vier Männer waren schneller.

Ultra Cycling heisst die Extremsportart, in der enorme Distanzen auf dem Fahrrad zurückgelegt werden. «Kurze» Rennen dauern zwei Tage, die längsten bis zu zwei Wochen. «Je länger, desto besser», lautet die Devise von Reist. Wenn es über mehrere Tage geht, ist sie richtig gut. Dann zeigt die 35-jährige Winterthurerin, dass sie mit wenig Schlaf auskommt. So etwa beim Race Across America, dem 5000 Kilometer langen Rennen durch die USA, das Reist mit den Olympischen Spielen vergleicht. Im vergangenen Jahr gewann sie es zum zweiten Mal, schlief dabei in neun Tagen nur neun Stunden. In diesem Jahr entschied sie sich aus finanziellen Gründen für die WM in Graz statt für die USA.

Wenn sie über ihre Rennen spricht, wird aus der zurückhaltenden Reist eine Plaudertasche. Begeistert erzählt sie von ihrer Sportart, die für so viele Menschen unverständlich ist. Warum tut sich ein Mensch solche Distanzen an?

«Für mich ist es faszinierend, herauszufinden, wozu der eigene Körper fähig ist. Mir geht es nicht darum, eine bestimmte Klassierung zu erreichen oder Rekorde zu brechen.»

Um 1.45 Uhr klingelt der Wecker

Rasch gehört Reist zur Weltspitze. Die Konkurrenz ist klein, ihr Ehrgeiz enorm. Das zeigt sich anhand ihres Tagesablaufes. Unter der Woche klingelt ihr Wecker stets um 1.45 Uhr, dann trainiert sie bis um 5 Uhr. Bis um 16 Uhr arbeitet sie als Hochbautechnikerin. Danach steht wieder ein Training an, um 20 Uhr geht es ins Bett. Am Wochenende stehen Einheiten von mehreren Stunden an. «Der Trainingsaufwand ist enorm», sagt Reist. Doch sie macht weiter, weil sie sich sicher ist, dass ihre Leistungsgrenze noch nicht erreicht ist. «In den Bergen bin ich gut, im Flachen kann ich noch besser werden.» Es ist dieser Wunsch nach Perfektion, nach dem Maximum, den Reist antreibt.

Der Kopf ist während des Rennens leer

In die Rennen startet sie enthusiastisch, doch irgendwann gibt der Körper zu verstehen, dass er nicht mehr kann. Reist fährt weiter. Stundenlang, tagelang. Auf dem Fahrrad macht sie alles ausser Schlafen und auf die Toilette gehen.

Das Radfahren verändert Nicole Reist. Sie funktioniert nur noch. Die Beine treten in die Pedale, der Kopf ist leer. Immerhin ist sie mit einem Funk mit ihren Helfern, die sich im Auto dahinter befinden, verbunden. Sechs Helfer hatte sie an der WM dabei, in Amerika waren es elf. Sie sind Reists Lebensversicherung. Zu ihrem Team gehören ein Physiotherapeut, ein Mechaniker und diverse Helfer, die die Autos fahren oder für die Verpflegung verantwortlich sind. Die Hauptaufgabe des Teams aber ist: Für Reists Sicherheit sorgen.

Nach Tagen auf dem Rad kämpft Reist mit Sekundenschlaf. Ihre Augen fallen zu. Irgendwann fährt sie Schlangenlinien. Dann schreien die Helfer in den Funk, um sie zu wecken. Manchmal kommen Halluzinationen dazu. Es winken ihr Blumen. Oder Schlümpfe stehen am Strassenrand. Es ist schon vorgekommen, dass Reist plötzlich stoppte, weil sie dachte, die Strasse sei gesperrt. Sie sah Polizisten in Leuchtwesten. Dabei waren es nur Leitpfosten.

«Zum Glück waren meine Halluzinationen bisher ungefährlich», sagt sie. Doch auch sonst hat das stundenlange Radfahren seine Tücken. Es kann vorkommen, dass Reist auf die andere Spur abdriftet, weil sie einschläft. Passiert ist noch nie etwas. Andere hat es schlimmer erwischt. Der Däne Anders Tesgaard kollidierte während des Race Across America 2015 mit einem Auto. Nach zweieinhalb Jahren im Koma verstarb er.

Vielleicht ist es diese Gefahr, weshalb sich Reists Familie nicht für ihren Sport begeistern kann. Auch sonst treffe sie immer wieder auf Menschen, die nicht verstehen können, warum sie sich diese Rennen antue. «Einige denken, ich sei verrückt.» Für ihre Freunde sei sie aber keine «Spinnerin». «Sie akzeptieren, wenn ich an ein Geburtstagsfest nicht komme, weil ich trainiere.» Wenn Nicole Reist irgendwann aufhört, freut sie sich darauf, mal wieder ins Kino zu gehen. Eine eigene Familie hat sie nicht geplant.

Früher hat Reist Unihockey und Tennis gespielt. Dann fragte sie 2005 ein Arbeitskollege, ob sie bei einem 24-Stunden-Rennen mitmachen wolle. Sie sagte zu. «Das Rennen war happig. Aber ich habe gleich gesagt, dass dies noch nicht meine Leistungsgrenze ist.»

Das Fieber war ausgebrochen. Sie wollte immer weiter, immer länger, immer extremer. Es folgte 2007 die Teilnahme an der WM und der erste Titel. Und irgendwann entwickelte Reist ihren amerikanischen Traum vom Race Across America. 2016 nahm sie erstmals teil und siegte sogleich, 2018 doppelte sie nach.

Race Across America kostet fast 60’000 Franken

Auch wenn Reist die Beste ihrer Sportart ist, generiert sie kaum Einnahmen. «Sponsoren für Ultra Cycling zu finden, ist schwer.» Sie hat Materialsponsoren, Geld erhält sie aber fast keines. Dabei kosten die Rennen einiges, das Race Across America zum Beispiel 50000 bis 60000 Franken. Reist bezahlt es von ihren Ersparnissen. Sie arbeitet mit einem 100-Prozent-Pensum als Hochbautechnikerin, auch wenn sie rund drei Monate pro Jahr für ihren Sport fehlt. Sie kompensiert es in der übrigen Zeit – mit bis zu 12-Stunden-Tage.

Selbst im Umfeld der Extremsportart gilt Reist als extrem. Sie hat kürzere Erholungspausen als die anderen. Am 28. Juli bestreitet sie das 2600 Kilometer lange «Race Across France», am 12. August steht sie am 2200 Kilometer langen «Race Around Austria» am Start. «Die Pause dazwischen sei zu kurz, sagen einige. Doch ich bin mir sicher, dass es möglich ist.»